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Kein Erbarmen

Kein Erbarmen

Titel: Kein Erbarmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerold , Haenel
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Kreise. Er machte die Augen wieder auf. Das Gelb schien ihn anzuziehen, als wollte die Farbe ihn aufsaugen, unwillkürlich wich er mit dem Oberkörper ein Stück zurück, sofort verstärkte sich wieder der Händedruck auf seiner Schulter. Und dann waren da plötzlich nur noch das Gelb und er, wie in einer gewaltigen Explosion ohne Zeit und Raum, der Boden unter ihm kippte weg, keuchend sackte Tabori zur Seite, mit einem raschen Griff unter die Achselhöhlen hielt ihn der Künstler, bis er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte.
    Tabori stieß die Luft aus. »Was war das? Ich …«
    »Du bist gut. Aber du hast sehr stark reagiert. Die meisten werden nur ein bisschen wirr im Kopf, heißt das wirr?«
    »Wirr. Schwindlig.«
    »Das macht das Gelb, bei anderen Farben ist es nicht so stark.«
    »Verblüffend«, sagte Tabori. »Das wusste ich nicht. Dass Gelb so eine Wirkung hat, meine ich.« Er stand vorsichtig auf, als würde er seinem Gleichgewichtssinn noch nicht wieder trauen.
    »Ich zeig dir noch was«, grinste der Künstler. »Ohne Farbe, du brauchst nicht bange sein. Aber das ist, was ich malen würde, wenn ich Millionär wäre und nicht Fischkutter für die Touristen malen müsste.«
    Er bückte sich zu einer Zeichenmappe, die aufrecht an derWand lehnte. Mit raschen Bewegungen legte er eine Reihe Zeichnungen vor Tabori auf den Fußboden.
    »Öl und Bleistift. Siehst du, was es ist?«
    Tabori war sich nicht sicher. Die Zeichnungen wirkten wie Ausschnitte aus einem größeren Motiv, immer die gleiche Grundstruktur, rissig, wie eine besondere Art von Stein oder Fels, aber mit geometrisch geraden Linien, ein Fußboden, der gegen eine Wand stieß, eine dunklere Stelle, die vage zu schimmern schien, wie von Schwitzwasser oder einem schwachen Moosbewuchs, darüber ragte etwas aus der Wand geradewegs ins Bild hinein, rund, geriffelt, und vielleicht daumendick, dann weggeknickt, wie verbogen, die bräunlich-rote Farbe hob sich deutlich vom dunklen Grau des Hintergrunds ab.
    »Eine rostige Eisenstange«, sagte Tabori. »Ein Armiereisen. Und rissiger Beton, auf dem feuchte Flecken zu sehen sind.«
    Der Künstler nickte anerkennend, sagte aber nichts. Stattdessen zog er eine flache Schachtel im Din-A4-Format aus der Schublade einer mit Farbdosen und Pinseln vollgestellten Kommode, nahm den Deckel ab und schob Tabori eine Reihe von Schwarzweiß-Fotos hin.
    Diesmal erkannte er die Motive sofort. Und damit ließen sich auch die Zeichnungen problemlos zuordnen. Tabori merkte, wie er unwillkürlich die Luft anhielt, während er mit zittrigen Fingern den Stapel Fotos durchblätterte. Was passiert hier, fragte er sich, wieso plötzlich diese Fotos, wieso zeigt er mir Bilder, auf denen die Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg zu sehen sind, wegen denen ich überhaupt hier bin, wann kommt das Foto, auf dem die Leiche zu sehen ist?
    Er warf einen kurzen Blick zu dem Künstler hinüber, derihn aufmerksam beobachtete und ihm jetzt mit einem Nicken bedeutete, sich auch die letzten Aufnahmen noch anzusehen.
    Tabori war sich sicher, gleich auf das zu blicken, was unausweichlich schien. Das Ganze war eine Inszenierung, daran zweifelte er keinen Augenblick mehr, irgendjemand zog hier die Fäden, und er selber war nichts weiter als eine Marionette in einem Spiel, das er nicht durchschaute.
    Das nächste Foto zeigte den Bunker auf der Grasklippe, dann kam eine Detailaufnahme von geborstenem Beton, dann ein Stollengang, auf der linken Seite erkannte Tabori deutlich die rostige Armierstange, die aus der Wand ragte und als Vorlage für eine der Zeichnungen gedient hatte, sogar der verschwommene Wasserfleck war zu sehen, dann kam das letzte Foto, kraftlos ließ Tabori den Stapel zu Boden fallen und starrte auf die leicht verwackelte Aufnahme, die in der Dämmerung gemacht sein musste: Das Dünental, von der Klippe aus fotografiert, im Vordergrund ein verbogener T-Träger, auf dem der Rost blühte, weit unten der Strand als heller Strich. Keine Leiche.
    »Was hast du?«, fragte der Künstler irritiert. »Gefällt es dir nicht? Schade, ich dachte, du könntest etwas damit anfangen. Tut mir leid, ich wollte nicht … aufdrängend sein.«
    Er wirkte nervös, unsicher. Aber es war eine Art von Nervosität, die nicht zu Taboris fast sicherer Vermutung passen wollte, dass er hier den Mörder vor sich hatte oder zumindest jemanden, der mehr wusste, als er sagte, eher schien der Künstler peinlich berührt, als hätte er sich zu weit vorgewagt und etwas von sich

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