Kein Erbarmen
dass du auch …«
»Nicht wirklich«, sagte Tabori. »Aber weißt du noch genau, an welchem Datum sie hier war?«
»Da brauch ich nur den Kassenbeleg zu suchen. Sie hat mit Visa bezahlt, das weiß ich noch, so viel Kunden hab ich ja nicht.«
Er brauchte nicht lange, um den entsprechenden Beleg zu finden.
Tabori starrte auf das Datum und versuchte, die einzelnen Puzzleteile zusammenzufügen. Am 6. September hatte sie bei Elsbet ein Zimmer genommen und für drei Tage im Voraus bezahlt. Abends hatte er sie auf der Party am Strand gesehen. Einen Tag später hatte sie mit ihm zusammen auf der Terrasse gesessen und Zeitung gelesen. Dann hatte sie ihm einen Brief unter der Tür durchgeschoben und war direkt danach abgefahren, ohne auszuchecken. Am selben Tag war sie laut Michaels Kassenbeleg um 15:20 Uhr in dem Mohair-Laden gewesen und hatte sich einen Pullover gekauft. Olivgrün, weil die Farbe gut zu ihrer Arbeit passen würde. Am 8. September war sie um 22:07 Uhr von dem ICE »Jacob Fugger« kurz hinter Aligse überrollt worden. Er erinnerte sich jetzt auch wieder, dass Sommerfeld etwas von einem olivgrünen Pullover erzählt hatte. Aber was war zwischen dem 7. September nachmittags und dem 8. September abends passiert?
»Wo ist der blaue Nissan?«, fragte Tabori unvermittelt.
Michael starrte ihn verständnislos an.
»Der Nissan muss irgendwo sein«, erklärte Tabori, während ihm gleichzeitig klar wurde, dass Michael gar nichts verstehen konnte. Tabori beeilte sich, ihm wenigstens die Eckpunktemitzuteilen: Die Kollegin war im Strandhotel abgestiegen, am Tag darauf war sie verschwunden, noch mal einen Tag später war sie von einem ICE überrollt worden, er selber, Tabori, glaubte nicht an einen Selbstmord, deshalb war er jetzt hier, um die Lücken zu schließen.
»Du bist bislang die letzte Person, die sie lebend gesehen hat«, sagte er.
»Hammer«, kam es von Michael. »Und du bist also tatsächlich bei der Polizei?! Sieht man gar nicht. Ich meine, du wirkst nicht wie ein Bulle, überhaupt nicht, und du kennst die ganzen Bands, auf die ich früher gestanden habe und so was, ist das irre?«
Kopfschüttelnd setzte er wieder die Flasche an. Die Tatsache, dass die Anwärterin womöglich ermordet worden war, schien ihn nicht weiter zu interessieren.
»Apropos Bullen«, sagte Tabori. »Wenn hier irgendjemand einen Nissan mit deutschem Kennzeichen entdeckt, wird er es ja sicher auch gemeldet haben. Wo ist bei euch die nächste Polizeistation, damit ich bei den Kollegen nachfragen kann?«
»Ålborg«, sagte Michael.
»Was? Das kann nicht sein! Das sind fast vierzig Kilometer. Ihr müsst doch hier im nächsten Ort …«
Michael winkte ab.
»Vergiss es. Früher hatten wir eine Wache in Fjerritslev und einen Dorfpolizisten in Brovst. Aber die dänische Polizei versucht zu sparen, wo es geht. Jetzt ist alles nach Ålborg verlagert worden. Dafür gibt es einen Streifenwagen mehr, der das Gebiet hier abklappert. Das soll angeblich billiger sein und außerdem wäre er schneller da, wenn irgendwas los ist, vorausgesetzt natürlich, er ist gerade zufällig in der Nähe.«
»Was?«
»So lautet die Begründung, die in der Zeitung stand. Aber du hast ja keine Ahnung, was seitdem hier los ist! Die Leute hier fühlen sich echt verarscht, und zu Recht! Zu den neuen Maßnahmen gehört nämlich auch, dass sie nur noch Kapitalverbrechen verfolgen. Für alles andere ist kein Geld mehr da, das gilt dann als Bagatell-Kriminalität, um die sich keiner kümmert. Für die auch keiner mehr zuständig ist, verstehst du? Und das erklär mal den Leuten, denen gerade das Sommerhaus aufgebrochen worden ist oder die morgens ihr Auto nicht mehr wiederfinden. Und umgekehrt funktioniert das genauso: Jeder Dieb weiß, dass ihm sowieso nichts passieren kann, also hat er auch nichts zu befürchten. Kannst du dir ja ungefähr vorstellen, noch dazu mit dem Lager, das wir bei Lerup jetzt haben.«
»Was für ein Lager?«
»Asylanten. Hast du noch nicht gesehen? Jede Menge Schwarze, die meisten aus Ghana, glaube ich …«
Tabori erinnerte sich jetzt, dass er gerade heute Morgen am Straßenrand drei farbige Frauen in bunten Wickelkleidern gesehen hatte. Und in Lerup waren zwei dunkelhäutige Jungen auf dem Fahrrad an ihm vorbeigefahren, der eine auf dem Gepäckträger, mit einer prallgefüllten Plastiktüte in jeder Hand. Tabori hatte sich noch gewundert, wo sie wohl herkamen, und die Jungen auf dem Fahrrad auch den Frauen am Straßenrand
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