Kein Erbarmen
zugeordnet, aber zu mehr hatten seine Überlegungen nicht geführt.
»Doch, ja, dann habe ich welche von ihnen gesehen, aber ich wusste nicht, dass sie aus einem Asylanten-Lager …«
»Wenn du mich fragst, sind sie arme Schweine, und dasist eine Sauerei, was sich Dänemark da leistet. Sie dürfen drei Jahre nicht arbeiten, das Übliche, also genauso wie bei uns, in Deutschland, meine ich jetzt. Aber überleg dir mal, wie es dir gehen würde, wenn du hier in irgendwelchen Baracken sitzt! Und jetzt haben wir noch Sommer, da ist das vielleicht noch ganz okay, aber was ist, wenn es kalt wird und wochenlang nur regnet, und du hast keine Chance, hier irgendwas zu machen. Die Bauernköppe wollen dich sowieso nicht, die drehen dir noch den Rücken zu! Klar, da ist schon was dran, wenn hier ein Rad verschwindet, brauchst du nur rüber ins Lager, da steht es dann, und das von deinem Nachbarn gleich noch dazu, und den Bullen brauchst du damit gar nicht erst zu kommen, habe ich ja gerade erzählt, die zucken nur mit den Schultern. Aber darum geht es nicht, das ganze System stimmt nicht! Du kannst Leute nicht einfach wegsperren, dann musst du dich auch nicht wundern, wenn es schief geht. Du musst mit den Leuten reden, sonst funktioniert das nicht. Und zwar sowohl mit denen als auch mit unseren, das sind zwei Kulturen, Mann, die wissen gar nichts voneinander! Aber inzwischen ist es schon so weit, dass unsere Kinder nicht mehr zusammen mit den Schwarzen im Bus fahren wollen, das musst du dir mal vorstellen! Da gibt es einen Bus zur Schule nach Brovst, und jetzt überlegen sie tatsächlich, ob sie einen Extra-Bus nur für die Schwarzen einsetzen. Weil die so laut sind und sich nicht benehmen können, sagen unsere eigenen Kids! Aber glaub nicht, dass in der Schule von den Lehrern mal darüber geredet würde …«
»Nicht witzig«, sagt Tabori. »Ich hatte gedacht, dass ihr das hier besser gelöst kriegt als wir.«
»Dann träum mal schön weiter.« Michael knallte seine leereFlasche auf den Tresen. »Ich sag ja, lange machen wir hier nicht mehr. Irgendwann ist Abflug. Das war okay, solange die Jungen klein waren, aber jetzt wollen sie sowieso nur noch in die Stadt, am liebsten gleich nach Kopenhagen. Und ich kapier es auch, Mann, der Kleine ist jetzt auch fertig mit der Schule, hat gerade Abitur gemacht, was soll er noch hier? Hier ist nichts, ein paar Kühe und Schweine und die Windräder, und wenn du mal ins Kino willst, musst du bis nach Ålborg. Vergiss es.«
Tabori nickte. Für einen Moment überlegte er, ob er Michael auf die betrunkenen Jugendlichen mit dem Mitsubishi ansprechen sollte, von denen der eine ja nun offensichtlich Michaels jüngerer Sohn gewesen war. Aber was sollte er sagen, was Michael nicht ohnehin schon wusste? Dass die Kids hier nichts zu tun hatten und ihre Leere mit Alkohol und leichtsinnigen Autofahrten betäubten? Aggressiv, nicht leichtsinnig. Lebensgefährlich.
Gleichzeitig schoss ihm plötzlich ein anderer Gedanke durch den Kopf, den er aber schnell wieder zu verdrängen versuchte. Es erschien ihm einfach zu billig, jetzt auch noch die Asylanten als neues Puzzleteil bei der Suche nach einem Mörder mit einzubeziehen, das schmeckte verdammt nach genau den Vorurteilen, die ihm die Polizeiarbeit mehr als einmal gründlich vergällt hatten, wenn Kollegen sich von Mutmaßungen leiten ließen, die auch gut aus der Bild-Zeitung hätten stammen können. Andererseits wusste er leider nur zu genau, dass der Umkehrschluss ebenso fatal sein konnte: Nicht jeder Asylant oder Migrant konnte allein als unschuldig gelten, weil der Ermittler sich auf keinen Fall einer weiteren Diskriminierung bestimmter Bevölkerungsgruppenschuldig machen wollte. Wobei dann da zu allem Überfluss auch noch die Jugendlichen wären, dachte Tabori mit einem weiteren Anflug von Verzweiflung über seine eigene offensichtliche Unfähigkeit, eine klare Linie zu finden: Ich habe es selber erlebt, wie schnell eine Situation eskalieren kann, und ein Gang-Bang mit einer vermeintlich wehrlosen und also als Opfer willkommenen Touristin kann ebenso gut auch mit ihrem Tod enden. Hat eigentlich irgendjemand die Anwärterin auf ein Sexualdelikt hin untersucht? Natürlich hatte Lepcke daran gedacht. Lepcke war kein Anfänger, im Übrigen gehörte ein Abstrich zum zwangsläufigen Procedere jeder Untersuchung. Tabori erinnerte sich jetzt auch wieder, dass Lepcke die entsprechende Frage gestellt hatte, als sie zusammen im Obduktionssaal gewesen
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