Kein Erbarmen
neue Mitarbeiter zugeteilt worden, um die Suche nach Damaschke voranzutreiben und den Mörder von Respekt zu finden, wobei man davon ausging – so hatte es jedenfalls der Polizeipräsident auf einer kurzen Pressekonferenz formuliert –, dass der oder die Täter identisch und womöglich im links-autonomen Milieu zu suchen waren: »Wir konzentrieren uns momentan auf verschiedene linksradikale Gruppierungen, die sich zum Ziel gesetzt haben, unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung zu zerstören und dabei in ihrem blindwütigen Hass auf den Polizeiapparat auch vor tätlichen Angriffen nicht zurückschrecken, wie unsere Erfahrungen im letzten Jahr deutlich gezeigt haben.«
Die Erfahrungen bezogen sich auf einen Brandanschlag in einem Polizeikommissariat, der Anschlag hatte sich dann allerdings als ein defekter Wasserkocher herausgestellt, der in der Kaffeeküche explodiert war. Aber zumindest hatte der niedersächsische Innenminister die Polizeikräfte zur Überwachung vor allem subversiver Personenkreise verstärkt, und somit hatten die wenigen »linken« Studenten in Hannover jetzt das zweifelhafte Vergnügen, mit Personenkontrollen und Hausdurchsuchungen konfrontiert zu sein.
Lepckes neue Mitarbeiter waren ausgerechnet Carlos und Ulrike, was allerdings einer gewissen Logik im polizeilichen Führungsapparat durchaus entsprach: Beide galten schließlich als intime Kenner der Szene. Lepcke war mit der Entscheidungnicht glücklich, Tabori hatte sich am letzten Abend vergeblich bemüht, ihn zu überzeugen, dass es ihn schlimmer hätte treffen können. Gerade Carlos und Ulrike konnten ihm den Freiraum verschaffen, den er brauchte, um die fehlenden Puzzleteile zusammenzusetzen.
Unterm Strich saßen Tabori und Lepcke jetzt im gleichen Boot: Der eine konnte nicht offen ermitteln, weil er den Dienst quittiert hatte, der andere durfte nicht, weil man ihn zurückgepfiffen hatte. Umso mehr waren sie beide von der Idee besessen, den Fall jetzt erst recht zu lösen. Wir gegen den Rest der Welt, dachte Tabori und musste unwillkürlich grinsen, als ihm dabei irgendeiner der Filme einfiel, von denen Lisa neulich noch gesprochen hatte – der Privatdetektiv und sein einziger Freund, der Bulle, die gemeinsam im Dreck stochern, regelmäßig eins auf die Fresse kriegen und jeden Morgen aufs Neue erstmal ihren Kater mit einem ordentlichen Schluck Whiskey bekämpfen müssen.
Ein Whiskey wäre nicht schlecht, dachte er immer noch grinsend, begnügte sich dann aber zwangsläufig mit einer neuen Zigarette, die er auf dem lockeren Kies wieder austrat, kaum dass er sie angezündet hatte – die Trauergesellschaft kam als kleine Gruppe über den Weg zur Kapelle, Tabori beeilte sich, um nicht den Anschluss zu verpassen.
Die Beerdigung fand auf dem Bothfelder Friedhof statt, einer eher belanglosen Anlage mit langen Reihen schmuckloser Grabsteine vor allem aus den Fünfziger Jahren. Allein durch das Alter der Bäume und Rhododendronbüsche hatte der Friedhof im Laufe der Jahrzehnte ein wenig Parkatmosphäre bekommen. Wenn Tabori sich recht erinnerte, musste hier irgendwo das Grab von Benno Ohnesorg sein, jenem Studenten,der 1967 in Berlin von einem Polizisten auf offener Straße niedergeschossen worden war.
Sein Tod hatte den Studentenunruhen neue Nahrung gegeben, auch Bader und Meinhof bezogen sich mehrmals auf das sinnlose Opfer von Polizeiwillkür. Und der bis dato völlig unbekannte Ohnesorg hatte es immerhin geschafft, selbst die hannoversche Provinz zu politisieren. Tabori bezweifelte, ob die Mehrzahl der Trauergäste vor ihm den Namen Benno Ohnesorg jemals gehört hatte.
Viele waren nicht gekommen, ein paar Uniformen, wahrscheinlich Kollegen aus der Ausbildung, ein älteres Ehepaar, zweifellos die Eltern, er sehr gerade, sie vor Schmerz gekrümmt an seinem Arm, das Gesicht tränenüberströmt.
Auch Carlos und Ulrike waren da, beide trugen dunkle Kleidung und wirkten seltsam deplatziert. Tabori quetschte sich in die Bankreihe hinter Güngör und Janin, Lisa saß ganz hinten am äußersten Rand. Sie trug wieder das schwarze Kostüm, diesmal mit einer Halskette aus hell schimmernden Perlen, die Tabori noch nie zuvor an ihr gesehen hatte. Sie hatten verabredet, so zu tun, als würden sie sich nur flüchtig kennen, deshalb waren sie auch nicht zusammen gekommen. Tabori nickte ihr kurz zu, Lisa nickte zurück. Kurz bevor der Pastor neben den Sarg trat, huschte Lepcke in die Kapelle, Tabori sah, dass er einen dünnen Schnellhefter bei
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