Kein Erbarmen
Kinderwagen so oft wie möglich über die sorgsam geharkten Parkwege geschoben, der Friedhof war wie eine Insel im großstädtischen Lärm.
Als ihm ein Ford mit Magdeburger Kennzeichen die letzte freie Parklücke wegschnappte, gab er Gas und bog hinter der Brauerei nach links zum Maschsee ab. Der Maschsee warzweifellos eine Attraktion, mit der Hannover punkten konnte. Wenn auch unter wenig glücklichen Umständen vom »Arbeitsdienst« im Dritten Reich angelegt, vermittelte die fast drei Kilometer lange Wasserfläche mitten in der Stadt so etwas wie weltstädtisches Flair. Als Kind war Tabori hier am Wochenende Tretboot gefahren, im Winter hatte er auf dem zugefrorenen See Schlittschuhlaufen gelernt. Einmal, viel später, Tabori war längst bei der Kriminalpolizei, hatten Schüler der nahe gelegenen Waldorfschule eine unbekleidete Frauenleiche unter der schimmernden Eisfläche entdeckt, die Frau war nie identifiziert worden, der Fall nie gelöst. Mit der anderen Maschsee-Leiche hatte Lisa zu tun gehabt, als sie mit ihren Hunden zur Suche angefordert worden war und die Hunde schon nach kurzer Zeit am Zulauf der Leine, die den See mit Frischwasser versorgte, die Fundstelle anzeigten. Polizeitaucher hatten aus mehreren Metern Tiefe vor dem Absperrgitter die Leiche des vermissten Kindes geborgen, das beim Spielen einige Kilometer oberhalb des Flusses von der Uferböschung gerutscht und abgetrieben worden war. Der Fall hatte damals für viel Aufsehen gesorgt, weil nicht auszuschließen gewesen war, dass nicht die Spielkameraden das Mädchen in den Fluss gestoßen hatten, »um ihr Schwimmen beizubringen«, wie ein beteiligter Junge bei der ersten Vernehmung erzählt, dann aber später widerrufen hatte. Dass das Mädchen aufgrund seiner türkischen Herkunft schon häufiger misshandelt worden war, hatte die Sache nicht besser gemacht.
In Höhe der Waldorfschule überquerte ein junger Mann die Straße, der zwar ein womöglich selbst gebautes hölzernes Kajak zum See trug, aber ansonsten aussah wie jeder andere Electro-Music begeisterte Jugendliche seines Alters auch,auf seinem T-Shirt stand in neonbunten Buchstaben zu lesen: FRAUEN SIND ZUM POPPEN DA.
Tabori erinnerte sich, dass John Kay, der spätere Sänger von Steppenwolf, in den Sechziger Jahren Schüler des hannoverschen Gymnasiums gewesen war. Wie Kays damals noch deutscher Name war, wollte ihm beim besten Willen nicht mehr einfallen, aber eigentlich spielte es auch keine Rolle, dachte er, die Zeiten haben sich geändert. »Born to be wild« ist längst durch Mario Barth ersetzt, das ist bitter, aber wahr.
Kurz vor der Zufahrt zum Parkplatz am Strandbad musste er noch mal anhalten, zwei Streifenpolizisten hatten die Fahrbahn gesperrt, um einer Entenfamilie den watschelnden Übergang über die Straße zu ermöglichen.
Die Enten ließen sich alle Zeit der Welt, der Fahrer hinter Tabori hupte ungeduldig, eine ältere Frau auf dem Fußweg fing augenblicklich an, ihn lautstark zu beschimpfen und drohte ihm mit ihrem Regenschirm, der Fahrer brüllte irgendetwas Unflätiges zurück, die Polizisten grinsten, ohne sich einzumischen. Als auch das letzte Entenküken den Bordstein hinaufgehüpft war, gaben sie die Straße wieder frei. Tabori hatte noch viel Zeit, Lisa konnte frühestens in einer Stunde mit den Anwärterinnen auftauchen. Wenn es ihr denn überhaupt gelingen würde, sie zu überreden.
Tabori suchte sich einen Parkplatz im Schatten einer Kastanie. Aus einer spontanen Idee heraus nahm er das Handy und rief die Nummer seiner Ex-Frau auf. Die, mit der er gerne die Kinder gehabt hätte, die er dann über den Engesohder Friedhof hätte schieben können. Und mit der er das letzte Mal kurz nach Ostern telefoniert hatte, um ihr zu erzählen, dass er jetzt kein Polizist mehr war. Was sie ohne weiteren Kommentarzur Kenntnis genommen hatte, obwohl es genau der Beruf gewesen war, der zu ihrer Trennung geführt hatte. Während es klingelte, trommelte Tabori nervös auf dem Lenkrad. Er wusste nicht, was der Anruf überhaupt sollte, vielleicht wollte er sich unbewusst an Lisa rächen, für ihre Affäre mit Lepcke. Sie hat Schuld, dachte er, wenn ich mich gleich zum Affen mache. Seine Ex-Frau meldete sich, als er gerade auflegen wollte.
»Ich bin’s«, sagte Tabori. »Ich wollte nur mal hören …«
Sabine erzählte ihm, dass man ihr eine Stelle in London angeboten hatte, die sie auch annehmen würde. Tabori wünschte ihr viel Glück, obwohl er noch nicht mal fragte, um was
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