Kein Erbarmen
Tabori ihn schon aus Prinzip halten wollte? Die Informationen, die er Tabori gegeben hatte, waren zu lückenhaft, und seine Anschuldigungen schienen größtenteils aus der Luft gegriffen, andererseits war da der deutliche Eindruck, dass es Heinisch ernst damit war. Tabori brauchte Zeit, um das irgendwie sortiert zu kriegen, im Moment durchschaute er die Zusammenhänge noch nicht, vielleicht war das Hauptproblem auch, dass er Heinisch gar nicht glauben wollte. Nicht wirklich jedenfalls.
»Ich sehe dich sprachlos«, blubberte Heinisch selbstgefällig vor sich hin. »Das ist ja mal was ganz Neues! Aber klar, damit hast du nicht gerechnet! Es wäre natürlich einfacher für dich gewesen, wenn du weiter in deinen Schubladen hättest denken können: Böser Polizeipräsident, der auch noch einemperversen Hobby frönt, aber tut mir leid, Alter, damit kann ich nicht dienen.«
»Du wolltest nur zwei Sätze sagen, Bärchen«, mischte sich Biggi ein, »aber jetzt redest du schon wieder nur die ganze Zeit über deine Arbeit!« Ihre Stimme klang leicht nölend. Sie zog fröstelnd den Kimono über der Brust zusammen und blickte vorwurfsvoll zu Tabori. »Ich kann es langsam nicht mehr hören, seit Stephan den neuen Posten hat, geht es immer nur darum, wie korrupt der ganze Polizeiapparat ist und was er dagegen tun kann, aber eigentlich …«
»Du hast ja so recht«, unterbrach Heinisch sie, während er sie sanft von seinem Schoß schob. »Eigentlich sollte mich das alles nicht mehr kümmern. Aber ich kann nun mal nicht anders! Und wer könnte das besser verstehen als du?«, wandte er sich erneut an Tabori. »Also lass uns wegen der Sache in Kontakt bleiben, ich brauche jemanden, mit dem ich darüber reden kann, nächste Woche vielleicht, ich melde mich bei dir, bis dahin hast du Zeit genug, dir das in aller Ruhe durch den Kopf gehen zu lassen, was ich dir erzählt habe. Aber hau mir jetzt nicht dazwischen«, setzte er hinzu. »Sonst würde ich mich womöglich noch gezwungen sehen …« Heinisch zuckte mit der Schulter. »Du weiß schon, was ich meine. Du bist schneller weg vom Fenster, als du denken kannst. Und das Gleiche gilt auch für deinen Freund Lepcke da, sag ihm das ruhig.«
»Du drohst mir?«, fragte Tabori verblüfft.
»Nein, ich brauche nur einen Freund, der mich jetzt nicht dranhängt.« Er erhob sich schwerfälllig. »Zeit fürs Bett, auch für dich. Am besten du verschwindest auf demselben Weg, auf dem du gekommen bist …«
Er wollte Tabori die Hand hinstrecken, hielt aber mitten in der Bewegung inne. Tabori spürte den Luftzug in seinem Rücken, noch bevor er irgendein Geräusch hörte. Aber seine Reaktion war zu langsam. Keine zwei Sekunden später wurde er von seinem Stuhl hochgerissen und ging zusammen mit dem Tisch zu Boden, eine Hand griff brutal in seine Haare und drückte seinen Kopf mit dem Gesicht nach unten auf die Holzbohlen, während ihm gleichzeitig ein Knie in den Rücken gerammt und der linke Arm schmerzhaft nach hinten gedreht wurde.
Biggi kreischte durchdringend, eine Stimme brüllte: »Vorsicht, Schusswaffe!«, dicht neben Taboris Kopf schurrte ein Fußtritt die Taschenlampenpistole über den Boden, als sie mit einem hässlichen Knacken gegen das Hausfundament prallte, brüllte die gleiche Stimme: »Gesichert!«
Für einen Moment hörte Tabori nur seinen eigenen, hämmernden Herzschlag und seinen keuchenden Atem, dann war es eindeutig Heinisch, der ganz ruhig sagte: »Sie kommen ein bisschen sehr spät, meine Herren. Ich hatte deutlich eher mit Ihnen gerechnet …«
21
Gleich nachdem er auf die Autobahn aufgefahren war, hing sich Tabori hinter einen polnischen Autotransporter, der mit gut hundertzwanzig und schlingerndem Anhänger die mittlere Spur besetzt hielt. Der Verkehr war immer noch so dicht, dass sich Tabori fragte, wieso das elektronische Leitsystem »freie Fahrt« erlaubte, außerdem hatte es wieder heftig zu regnen angefangen. Jeder Wagen, der links vorbeizog, schleuderte hohe Wasserfontänen auf die Windschutzscheibe des Passats. Tabori konzentrierte sich darauf, den Abstand zu den Rückleuchten vor ihm möglichst gleich zu halten, die rechte Lampe flackerte unregelmäßig. Im Radio spielten sie »Bridge over Troubled Water« von Simon and Garfunkel, ein Hörerwunsch. Die Hörerin hatte gerade erklärt, dass sie »Paul und Art« immer schon einfach »süüüß« gefunden habe. Tabori hatte Simon and Garfunkel noch nie gemocht und daran würde sich wohl auch nichts mehr ändern
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