Kein Erbarmen
…
Der Schreck saß ihm immer noch in den Knochen, das kurze Zwischenspiel auf Heinischs Terrasse hatte ihn mehr verstört, als er sich eingestehen mochte. Vor allem war es seine Hilflosigkeit gewesen, die ihn jetzt irritierte, der Totstell-Reflex, der sofort eingetreten war, kaum dass er mit dem Gesicht nach unten auf den Holzbohlen lag. Und als sie ihn dann mit vorgehaltenen Waffen auf einen Stuhl gezerrt hatten und er die beiden Zivilpolizisten aus dem Audi erkannte, war er unfähig zu irgendeiner anderen Reaktion gewesen als dem vergeblichenVersuch, das Zittern in seinen Händen unter Kontrolle zu bekommen. Schließlich war es Heinisch gewesen, der ihm – zur Verblüffung der beiden Cobra-Elf-Helden – eine angezündete Zigarette zwischen die Lippen gesteckt hatte. Überhaupt hatte Heinisch die Situation ganz offensichtlich genossen und umso mehr den überlegenen Krisenmanager gespielt, je weiter sich die Zivilbeamten in Entschuldigungen über ihren verspäteten Einsatz verstrickten: »Ich muss mich auf Sie verlassen können, und zwar hundertprozentig! Ich brauche ganz sicher keinen Personenschutz, wenn trotzdem jeder nach Belieben auf meine Terrasse spazieren kann!« Gefolgt von einem kurzen Zwinkern zu Tabori, wie um ihr heimliches Bündnis zu bekräftigen, das sie beide zwang, ihre Rollen zu spielen, und die souveräne Lösung des Problems: »Unter anderen Umständen hätte das zweifellos ein Nachspiel zur Folge, aber ich will das nicht unnötig an die große Glocke hängen, ich schlage vor, wir handhaben das so, als hätte das Ganze nie stattgefunden. Ich hatte keinen Besuch, für Sie ist der Abend ohne besondere Vorkommnisse verlaufen, kein Nachspiel, keine Aktennotiz, habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?«
»Aber … was ist jetzt? Also, was machen wir jetzt mit ihm? Sollen wir ihn einfach …?«
»Ich weiß nicht, von wem Sie reden. Es ist niemand weiter hier außer meiner Frau und mir, und Sie haben nur mehr oder weniger diskret noch mal eine Runde gedreht und festgestellt, dass alles bestens ist und wir gerade dabei waren, ins Bett zu gehen.«
Heinisch hatte gewartet, bis die beiden Beamten durch den Garten verschwunden waren, dann hatte er Biggi ins Hausgeschickt und, während er sich nach der Taschenlampe bückte, irgendetwas vor sich hingemurmelt, von dem Tabori nur das Wort »Marionetten« verstand. Die Taschenlampe war bei dem Aufprall zu Bruch gegangen, als Heinisch den Lauf nach unten hielt, fielen Glassplitter auf den Boden.
»Das war’s dann wohl mit dem guten Stück, schade drum. Aber wenn wir schon davon sprechen: Wo hattest du sie eigentlich damals her? – Warte, sie gehörte deinem Opa, hast du behauptet, jetzt erinnere ich mich wieder. Und dein Opa wohnte in dem alten Haus da an der Leiblstraße, Leiblstraße Ecke Großbuchholzer Straße, richtig? Die hatten Hühner im Garten und ein Pony oder so was, weiß ich noch, aber du wolltest nie irgendjemanden mitnehmen, wenn du da hin bist, das war dir irgendwie peinlich, habe ich schon damals gedacht. Aber jetzt kannst du es ja ruhig sagen: Das waren alles Zigeuner da in dem Haus, habe ich recht? Roma oder Sinti oder was weiß ich, aber ist ja auch egal …«
Das war der Moment gewesen, in dem Tabori zum ersten Mal wieder den Mund aufgekriegt hatte.
»Sinti. In Hannover gab es immer mehr Sinti als Roma. Im Altwarmbüchener Moor war übrigens ein Lager für Sinti, falls es dich interessiert, von dort sind sie direkt nach Auschwitz gebracht worden. Aber du hast recht, ist ja auch egal, ist lange her! Allerdings solltest du vielleicht die Durchläufe besser lesen, die bei dir auf dem Schreibtisch landen, zum Beispiel zur offiziellen Sprachregelung. Wir reden jetzt nur noch von MEMs. Mobile Einwanderer-Menschen, so heißt das jetzt. – Es sind übrigens Typen wie du, die sich so was ausdenken. Schreibtischtäter. Papiertiger!«, hatte er noch hinzugesetzt und war grußlos gegangen. Heinischsmitleidiges Lächeln hatte ihn bis in die Dunkelheit des Gartens verfolgt.
Er hat es vorhin selber gesagt, hatte Tabori gedacht, als er durch die Gartentür auf die Straße getreten war, wir sind nichts als Marionetten. Aber der Puppenspieler, der die Fäden in der Hand hält, ist ganz sicher auch nicht Heinisch.
Die Lichthupe des Audis hatte zweimal kurz aufgeleuchtet, Tabori hatte sich zu dem geöffneten Fenster gebeugt.
»Nur damit du nicht denkst, wir wären blöd«, hatte der Fahrer ihm mitgeteilt. »Keine Ahnung, was ihr da am Laufen
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