Kein Friede den Toten
war ihr Fehler gewesen. Emma hatte in ihrem Leben viel Unrecht begangen. Sie hatte vielen Menschen Schaden zugefügt. Olivia wusste, dass sie ernsthaft versucht hatte, etwas davon wieder gutzumachen. Sie wusste nicht, inwiefern man das Emma da oben zugute halten würde, aber wenn jemand Vergebung verdient hatte, dann war es Emma Lemay.
Aber über eine Sache kam Olivia nicht hinweg. Wenn sie an Matts Gesichtsausdruck dachte, als sie ihm die Wahrheit erzählt hatte, schossen ihr Tränen in die Augen.
Er war ganz und gar nicht so gewesen, wie sie es sich vorgestellt hatte.
Er hätte bestürzt sein müssen. Wahrscheinlich war er das auch. Wie denn auch nicht? Seit ihrer ersten Begegnung in Las Vegas hatte Olivia der Blick fasziniert, mit dem er sie ansah – als hätte Gott nie etwas Sensationelleres, oder – in Ermangelung eines besseren Wortes – Reineres erschaffen. Olivia hatte natürlich erwartet, dass dieser Blick verschwand oder sich eintrübte, sobald er die Wahrheit hörte. Sie hatte damit gerechnet, dass der Blick in seinen blassblauen Augen härter oder kälter wurde.
Aber das war nicht passiert.
Es hatte sich gar nichts verändert. Matt hatte erfahren, dass seine Frau eine Lügnerin, war, dass sie Dinge getan hatte, die die meisten Männer dazu gebracht hätten, sich voller Abscheu von ihr abzuwenden – und reagiert hatte er mit bedingungsloser Liebe.
Im Lauf der Jahre hatte Olivia genug Abstand gewonnen, um zu erkennen, dass sie aufgrund ihrer entsetzlichen Kindheit einen Hang zur Selbstzerstörung hatte, wie so viele andere Mädchen, mit denen sie zusammengearbeitet hatte. Männer, die wie sie in verschiedenen Pflegefamilien unter ärmlichen Bedingungen aufgewachsen waren, reagierten für gewöhnlich mit Gewalt. So zeigten misshandelte Männer ihre Wut – durch brutale, körperliche Gewalt.
Frauen waren anders. Sie griffen auf andere Formen der Grausamkeit zurück, in den meisten Fällen richteten sie ihre Wut allerdings gegen sich selbst – da sie niemand anders wehtun konnten, taten sie sich selbst weh. Kimmy war so gewesen. Olivia – nein, Candi – auch.
Bis sie Matt getroffen hatte.
Vielleicht lag es daran, dass er im Gefängnis gesessen hatte. Vielleicht hing es damit zusammen, wie sie gesagt hatte,
dass sie beide so viel Leid durchgemacht hatten. Auf jeden Fall war Matt der beste Mann, den sie je kennen gelernt hatte. Er ärgerte sich nicht über Nebensächlichkeiten. Er lebte für die Gegenwart. Er achtete auf das, was wirklich zählte. Er ließ sich nicht von Äußerlichkeiten ablenken. Er ignorierte das Drumherum und kümmerte sich um die wichtigen Dinge. Und damit half er auch ihr, über solche Dinge hinwegzusehen – wenigstens was sie selbst betraf.
Matt sah das Hässliche in ihr nicht – immer noch nicht! –, also war es nicht da.
Doch als Olivia packte, wurde ihr die kalte, hässliche Wahrheit bewusst. Nach den vielen Jahren und Täuschungsmanövern hatte sie diesen selbstzerstörerischen Hang nicht abgelegt. Welche andere Erklärung konnte es für ihre Aktionen geben? Wie dumm war das gewesen – im Internet nach Candace Potter zu suchen?
Und welchen Schaden sie damit angerichtet hatte! Emma hatte es am härtesten getroffen. Sie selbst natürlich auch, aber vor allem eben auch den einzigen Mann, den sie je geliebt hatte.
Warum hatte sie darauf bestanden, in der Vergangenheit herumzustochern?
Ehrlich gesagt lag das ganz einfach daran, dass sie nicht anders konnte. Man konnte noch so viele Argumente gegen Abtreibungen, für Adoptionen, für das Leben lesen – was Olivia im Laufe der Jahre auch bis zum Überdruss getan hatte –, trotzdem durfte man eine allgemeingültige Wahrheit nie außer Acht lassen: Wenn man schwanger wird, steht man am ultimativen Scheideweg. Egal, welche Richtung man einschlägt, man wird sich hinterher immer fragen, was geschehen wäre, wenn man sich anders entschieden hätte. Obwohl sie noch sehr jung gewesen war und gar nicht die Möglichkeit gehabt hatte, das Kind zu behalten, obwohl andere die Entscheidung für sie getroffen
hatten, war kein Tag vergangen, an dem Olivia nicht an das riesige Was-wäre-wenn gedacht hatte.
Darüber kann keine Frau einfach so hinweggehen.
Es klopfte an der Tür.
Olivia wartete. Wieder klopfte es. Es gab keinen Türspion, also ging sie zum nächsten Fenster, schob die Stores zur Seite und spähte hinaus.
Vor der Tür standen zwei Männer. Einer hätte direkt einem Katalog für sportive
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