Kein Friede den Toten
Jetzt, wo Olivia ein Baby bekam, musste er die Waffe loswerden. Aber er war sich nicht sicher, ob er das schaffte.
Es gibt eine Menge Kritiker des Gefängnissystems. Die meisten Probleme sind einleuchtend und liegen, jedenfalls bis zu einem gewissen Grade, in der Natur der Sache: Man sperrt viele schlechte Menschen mit anderen schlechten Menschen zusammen. Es ist zweifellos richtig, dass man dort nur die falschen Sachen lernt. Man überlebt, indem man Distanz wahrt, sich absondert und jede Art von Verbindung meiden lernt. Man lernt nicht, wie man sich anpasst oder ein konstruktives Mitglied einer Gruppe wird – ganz im Gegenteil. Man lernt, dass
man niemandem vertrauen darf, dass man letztlich nur auf sich selbst zählen kann und dass man jederzeit bereit sein muss, sich mit allen Mitteln zu verteidigen.
Die Pistole verlieh Matt ein Gefühl von Sicherheit.
Er wusste, dass dieses Gefühl trog. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Pistole eine Katastrophe auslöste, war viel größer als die, dass sie jemanden rettete. Aber sie war nun mal da. Und jetzt, wo die Welt um ihn herum zusammenbrach, sah er sie sich zum ersten Mal, seit er sie gekauft hatte, genauer an.
Das Telefon riss ihn aus seinen Gedanken. Hastig, als hätte plötzlich jemand das Zimmer betreten, klappte er die Stahlkassette zu und nahm den Hörer ab.
»Hallo?«
»Rate mal, was ich gerade gemacht habe, als du angerufen hast?«
Es war Cingle.
»Tut mir Leid«, sagte Matt. »Ich weiß, dass es spät ist.«
»Nein, nein. Rate. Los. Okay, vergiss es. Ich verrat’s dir. Ich hab’s mit Hank gemacht. Der braucht einfach ewig. Ich hab mich so gelangweilt, dass ich fast mittendrin rangegangen wäre, du weiß schon, mitten im … äh … Stoß. Aber du kennst das ja, Männer sind in dem Punkt so schrecklich empfindlich.«
»Cingle?«
»Was ist los?«
»Die Fotos, die du von meinem Handy runtergeladen hast.«
»Was ist damit?«
»Hast du die zu Hause?«
»Du meinst die Dateien? Die sind im Büro.«
»Habt ihr sie vergrößert?«
»Einer unserer Techniker hat das gemacht, aber ich bin noch nicht dazugekommen, sie mir anzugucken.«
»Ich muss sie sehen«, sagte Matt. »Die Vergrößerungen, meine ich.«
»Wieso?«
»Ich hab da eine Idee.«
»Mhm.«
»Ja, mhm. Pass auf, ich weiß, dass es verdammt spät ist, aber es wäre gut, wenn wir uns bei dir im Büro treffen könnten und …«
»Jetzt?«
»Ja.«
»Bin schon unterwegs.«
»Du hast was bei mir gut.«
»Und zwar nicht zu knapp«, sagte Cingle. »Wir sehen uns in einer Dreiviertelstunde.«
Er schnappte sich den Wagenschlüssel – er fühlte sich wieder nüchtern genug, um fahren zu können –, steckte das Handy und das Portemonnaie in die Tasche und ging zur Tür. Dann fiel ihm die halbautomatische Mauser wieder ein. Sie lag noch auf dem Schreibtisch. Er überlegte, was er tun sollte.
Er nahm die Pistole.
Eins erzählt einem nie jemand: Es ist ein tolles Gefühl, eine Pistole in der Hand zu halten. Im Fernsehen reagiert der Durchschnittsmensch immer ablehnend, wenn man ihm eine Pistole gibt. Er verzieht das Gesicht und sagt: »Ich will das Ding nicht!« In Wirklichkeit fühlt es sich aber nicht nur gut an, eine Pistole in der Hand zu halten – der kalte Stahl auf der Haut, das Gewicht in der Handfläche, der anschmiegsame Griff, um den sich die Finger wie von selbst so schließen, dass der Zeigefinger genau auf dem Abzug liegt –, sondern sogar richtig und natürlich.
Aber nein, das ging nicht.
Es würde Riesenprobleme geben, wenn er mit seinem Vorstrafenregister mit einer Waffe erwischt wurde.
Trotzdem schob er sich die Pistole in den Hosenbund.
Als Matt die Haustür öffnete, kam sie gerade die Treppe hoch. Ihre Blicke trafen sich.
Matt überlegte, ob er sie erkannt hätte, wenn Lance nicht gerade ihren Namen erwähnt und er nicht die Nachricht auf dem Anrufbeantworter abgehört hätte. Schwer zu sagen. Sie hatte immer noch kurze Haare. Sie sah immer noch ziemlich jungenhaft aus. Eigentlich hatte sie sich nicht sehr verändert. Auch das war so eine Sache – wenn man Erwachsenen begegnete, die man nur als Kinder aus der Grundschule kannte, sah man immer noch das kleine Kind in ihnen.
Loren Muse sagte: »Hey, Matt.«
»Hey, Loren.«
»Lange nicht gesehen.«
»Ja.«
Sie rang sich ein Lächeln ab. »Hast du einen Moment Zeit? Ich muss dir ein paar Fragen stellen.«
23
Matt Hunter stand auf dem Absatz vor seiner Haustür und fragte: »Geht’s um die Nonne aus
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