Kein Land für alte Männer
Mann am Empfang saß auf einem Stuhl und las eine Zeitschrift, und als er Chigurh sah, schob er sie unter den Schalter und stand auf. Ja, Sir, sagte er.
Ich möchte das Gästebuch sehen.
Sind Sie Polizist?
Nein, bin ich nicht.
Ich fürchte, das kann ich nicht machen, Sir.
Doch, das können Sie.
Als er wieder heraufkam, blieb er vor der Tür seines Zimmers stehen und lauschte. Er ging hinein, holte die Schrotflinte und den Empfänger, ging dann weiter zu dem Zimmer mit dem Absperrband vor der Tür, hielt die Box daran und schaltete sie ein. Er ging weiter zur zweiten Tür und prüfte den Empfang dort. Dann kehrte er zum ersten Zimmer zurück, öffnete mit dem Schlüssel von der Rezeption die Tür, trat zurück und drückte sich mit dem Rücken an die Wand des Korridors.
Er hörte Verkehrsgeräusche von der Straße jenseits des Parkplatzes, glaubte aber dennoch, dass das Fenster geschlossen war. Kein Luftzug war zu spüren. Er warf einen raschen Blick ins Zimmer. Bett von der Wand weggezogen. Badezimmertür offen. Er vergewisserte sich, dass die Schrotflinte entsichert war. Dann trat er mit einem langen Schritt neben den anderen Türpfosten.
Es war niemand im Zimmer. Mit der Box suchte er es ab und fand den Sender in der Schublade des Nachtschränkchens. Er setzte sich aufs Bett und drehte ihn in der Hand. Ein polierter Metallrhombus, so groß wie ein Dominostein. Er schaute hinaus auf den Parkplatz. Sein Bein schmerzte. Er steckte das Stück Metall in die Tasche, schaltete den Empfänger aus, stand auf, ging hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Im Zimmer klingelte das Telefon. Er überlegte einen Moment lang. Dann stellte er den Transponder auf die Fensterbank im Flur, drehte sich um und ging wieder in die Eingangshalle hinunter.
Und dort wartete er auf Wells. Damit würde keiner rechnen. Er saß in einem in die Ecke geschobenen Ledersessel, von dem aus er sowohl den Vordereingang als auch den nach hinten führenden Flur übersehen konnte. Wells kam dreizehn Minuten nach elf, und Chigurh stand auf und folgte ihm die Treppe hinauf, die Schrotflinte locker in die Zeitung eingeschlagen, die er gelesen hatte. Ein Stück weit die Treppe hinauf drehte Wells sich um und blickte zurück, und Chigurh ließ die Zeitung fallen und hob die Schrotflinte auf Hüfthöhe. Hallo, Carson, sagte er.
Sie saßen in Wells’ Zimmer, Wells auf dem Bett, Chigurh auf dem Stuhl am Fenster. Du musst das nicht tun, sagte Wells. Ich bin ein Daytrader. Ich könnte einfach nach Hause gehen.
Könntest du.
Es soll dein Schaden nicht sein. Ich geh mit dir zu einem Geldautomaten. Danach geht einfach jeder seiner Wege. Da wären ungefähr vierzehn Riesen für dich drin.
Guter Zahltag.
Finde ich auch.
Chigurh sah zum Fenster hinaus, die Schrotflinte quer über den Knien. Dass ich verwundet worden bin, hat mich verändert, sagte er. Meine Perspektive verändert. In gewisser Weise habe ich mich weiterbewegt. Mir ist einiges klargeworden, was mir vorher nicht klar war. Ich hab gedacht, es wäre mir klar, aber das war’s nicht. Am ehesten kann ich es so formulieren, dass ich mir selbst nahegekommen bin. Das ist nicht das Schlechteste. Es war überfällig.
Es ist trotzdem noch ein guter Zahltag.
Stimmt. Nur leider in der falschen Währung.
Wells schätzte die Entfernung zwischen ihnen ab. Sinnlos. Vielleicht vor zwanzig Jahren. Wahrscheinlich aber schon damals nicht. Tu, was du tun musst, sagte er.
Chigurh fläzte sich lässig auf dem Stuhl, das Kinn an seine Fingerknöchel gedrückt. Sein Augenmerk auf Wells gerichtet. Auf dessen letzte Gedanken. Er hatte das alles schon erlebt. Genau wie Wells.
Angefangen hat es schon vorher, sagte er. Bloß hab ich es da nicht bemerkt. Als ich zur Grenze runtergefahren bin, hab ich in einer kleinen Stadt in einem Café Rast gemacht, da waren ein paar Männer, die haben Bier getrunken, und einer hat ständig zu mir hergesehen. Ich hab ihn nicht weiter beachtet. Ich hab mein Essen bestellt und gegessen. Aber als ich zum Tresen gegangen bin, um zu zahlen, musste ich an ihnen vorbei, und sie haben alle gegrinst, und er hat was gesagt, das war schwer zu ignorieren. Weißt du, was ich gemacht hab?
Ja. Ich weiß, was du gemacht hast.
Ich hab ihn ignoriert. Ich hab gezahlt und war gerade dabei, die Tür aufzudrücken, da hat er dasselbe nochmal gesagt. Ich hab mich umgedreht und ihn angesehen. Ich hab einfach nur dagestanden, mir mit einem Zahnstocher zwischen den Zähnen gestochert und eine kleine Bewegung mit dem Kopf
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