Kein Land für alte Männer
alten Frau bleiben mir noch drei Minuten. Ach, was soll’s. Ich hab das alles schon vor langer Zeit kommen sehen. Fast wie in einem Traum. Dèjá vu. Er sah Chigurh an. Deine Ansichten interessieren mich nicht, sagte er. Tu’s einfach. Du verdammter Psychopath. Tu’s, und zur Hölle mit dir.
Er schloss dann doch die Augen. Er schloss die Augen, drehte den Kopf weg und hob eine Hand, um abzuwehren, was nicht abzuwehren war. Chigurh schoss ihm ins Gesicht. Alles, was Wells je gewusst, gedacht oder geliebt hatte, troff langsam an der Wand hinter ihm hinab. Das Gesicht seiner Mutter, seine Erstkommunion, Frauen, die er gekannt hatte. Die Gesichter von Männern, während sie, vor ihm auf den Knien liegend, starben. Der Körper eines toten Kindes in einer Schlucht neben der Straße, in einem anderen Land. Er lag halb kopflos auf dem Bett, die Arme zur Seite geworfen, mit größtenteils fehlender rechter Hand. Chigurh stand auf, pflückte die leere Patronenhülse vom Teppich, pustete hinein, steckte sie in die Tasche und sah auf seine Uhr. Bis zum neuen Tag war es noch eine Minute.
Er ging die Hintertreppe hinunter und über den Parkplatz zu Wells’ Wagen, suchte aus den Schlüsseln, die Wells bei sich gehabt hatte, den Wagenschlüssel heraus, öffnete die Tür und durchsuchte das Wageninnere vorn, hinten und unter den Sitzen. Es war ein Mietwagen, der außer dem Mietvertrag in der Türtasche nichts enthielt. Er schloss die Tür, humpelte nach hinten und öffnete den Kofferraum. Nichts. Er ging zur Fahrerseite, öffnete die Tür, löste die Motorhaubenverriegelung, ging nach vorn, hob die Motorhaube, blickte in den Motorraum, klappte die Haube zu und schaute hinüber zum Hotel. Während er da stand, klingelte Wells’ Handy. Er fischte es aus seiner Tasche, drückte den Knopf und hielt es sich ans Ohr. Ja, sagte er.
An den Arm der Schwester geklammert, schleppte sich Moss den Stationsflur entlang. Sie sagte auf Spanisch Ermutigendes zu ihm. Beim Schwesternzimmer angelangt, machten sie kehrt und traten den Rückweg an. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Andale, sagte sie. Que bueno. Er nickte. Und wie bueno, sagte er.
Spät in der Nacht erwachte er aus einem verstörenden Traum, kämpfte sich den Flur entlang und bat darum, das Telefon benutzen zu dürfen. Schwer auf den Schalter gestützt, wählte er die Nummer in Odessa und hörte zu, wie es klingelte. Es klingelte lange Zeit. Schließlich nahm ihre Mutter ab.
Ich bin’s, Llewelyn.
Sie will nicht mit dir reden.
Doch, will sie.
Weißt du, wie spät es ist?
Es ist mir egal, wie spät es ist. Leg gefälligst nicht auf.
Ich hab ihr gesagt, was passieren würde, oder? Und zwar bis in alle Einzelheiten. Ich hab gesagt: Das und das wird eintreten. Und jetzt ist es eingetreten.
Leg nicht auf. Hol sie ans Telefon.
Sie meldete sich mit den Worten: Ich hätt nicht gedacht, dass du so mit mir umgehen würdest.
Hallo, Liebling, wie geht’s dir? Geht’s dir gut, Llewelyn? Hast du deine Zunge verschluckt?
Wo bist du?
Piedras Negras.
Was soll ich machen, Llewelyn?
Geht’s dir gut?
Nein, mir geht’s nicht gut. Wie kann’s mir gutgehen? Leute rufen deinetwegen hier an. Ich hab den Sheriff von Terrell County hier gehabt. Hat hier vor der Tür gestanden, verdammt nochmal. Ich hab gedacht, du wärst tot.
Ich bin nicht tot. Was hast du ihm gesagt?
Was hätt ich ihm denn sagen können?
Hätt ja sein können, dass er dich mit irgendwelchen Tricks dazu gebracht hat, was zu sagen.
Du bist verletzt, stimmt’s?
Wie kommst du darauf?
Das hör ich deiner Stimme an. Bist du okay?
Ich bin okay.
Wo bist du?
Hab ich dir doch gesagt.
Du hörst dich an, als wärst du in einem Busbahnhof.
Carla Jean, ich glaub, du musst von dort verschwinden.
Von wo?
Aus diesem Haus.
Du machst mir Angst, Llewelyn. Wo soll ich denn hin?
Das spielt keine Rolle. Ich glaub bloß, dass du nicht dort bleiben solltest. Du könntest in ein Motel gehen.
Und was soll ich mit Mama machen?
Der passiert schon nichts.
Der passiert schon nichts? Das kannst du doch gar nicht wissen.
Llewelyn gab keine Antwort.
Oder?
Ich glaub einfach nicht, dass irgendwer sie belästigt.
Du glaubst das nicht?
Du musst verschwinden. Nimm sie einfach mit.
Ich kann mit meiner Mama nicht in ein Motel gehen. Sie ist krank, falls du das vergessen hast.
Was hat der Sheriff denn gesagt?
Dass er dich sucht, was glaubst du denn, was er gesagt hat?
Was hat er noch gesagt?
Sie gab keine Antwort.
Carla Jean?
Es hörte sich an, als ob sie weinte.
Was hat er
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