Kein Land für alte Männer
auf der Ostseite der Stadt und ging gleich zu Bett. Er erwachte wie üblich um sechs, stand auf, zog die Vorhänge zu und legte sich wieder ins Bett, konnte aber nicht mehr schlafen. Schließlich stand er auf, duschte, zog sich an, ging ins Café, frühstückte und las dabei die Zeitung. Über Moss und das Mädchen stand bestimmt noch nichts drin. Als die Kellnerin kam, um ihm Kaffee nachzugießen, fragte er sie, um welche Zeit die Abendzeitung kam.
Ich weiß nicht, sagte sie. Ich hab aufgehört, sie zu lesen.
Ich kann’s Ihnen nicht verdenken. Ich würd auch aufhören, wenn ich könnte.
Ich hab aufgehört, sie zu lesen, und meinen Mann hab ich auch dazu gebracht.
Ach ja?
Ich weiß nicht, warum die überhaupt noch Zeitungen machen. Was Lesenswertes steht doch sowieso nicht drin.
Nein.
Wann haben Sie in der Zeitung das letzte Mal etwas über Jesus Christus gelesen?
Bell schüttelte den Kopf. Ich weiß nicht, sagte er. Das ist bestimmt schon eine Weile her.
Das glaub ich aber auch, sagte sie. Eine ganz schön lange Weile.
Er hatte mit ähnlichen Nachrichten auch schon an andere Türen geklopft, sodass es ihm nicht ganz neu war. Er sah, wie sich der Fenstervorhang leicht bewegte, dann ging die Tür auf, und sie stand da, in Jeans und mit über der Hose hängendem Hemd, und sah ihn an. Kein Gesichtsausdruck. Nur wartend. Er nahm seinen Hut ab, und sie lehnte sich an den Türpfosten und wandte das Gesicht ab.
Es tut mir leid, Ma’am, sagte er.
O Gott, sagte sie. Sie wankte ins Zimmer zurück, sackte zu Boden und vergrub, die Hände auf dem Kopf, das Gesicht zwischen den Unterarmen. Bell stand da und hielt seinen Hut. Er wusste nicht, was er tun sollte.
Von der Großmutter war nichts zu sehen. Auf dem Parkplatz standen zwei spanische Zimmermädchen, die hersahen und miteinander tuschelten. Er trat ins Zimmer und machte die Tür zu.
Carla Jean, sagte er.
O Gott, sagte sie.
Es tut mir wirklich furchtbar leid.
O Gott.
Er stand da, den Hut in der Hand. Es tut mir leid, sagte er.
Sie hob den Kopf und sah ihn an. Ihr verzerrtes Gesicht. Zum Teufel mit Ihnen, sagte sie. Sie stehen da und erzählen mir, dass es Ihnen leidtut? Mein Mann ist tot. Begreifen Sie das? Wenn Sie noch einmal sagen, dass es Ihnen leidtut, dann, bei Gott, hol ich meine Pistole und schieß Sie über den Haufen.
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IX
Ich hab sie beim Wort nehmen müssen. Viel anderes hätt man gar nicht machen können. Ich hab sie nie wiedergesehen. Ich wollt ihr sagen, dass es so, wie’s in der Zeitung stand, nicht gestimmt hat. Das mit ihm und diesem Mädchen. Wie sich rausgestellt hat, war sie eine Ausreißerin. Fünfzehn Jahre alt. Ich glaub nicht, dass er was mit ihr hatte, und es passt mir gar nicht, dass sie das geglaubt hat. Das hat sie nämlich, wissen Sie. Ich hab sie ein paarmal angerufen, aber sie hat jedes Mal sofort aufgelegt, und das kann ich ihr nicht verdenken. Als die mich dann aus Odessa angerufen und mir erzählt haben, was da passiert war, hab ich‘s kaum glauben können. Es hat einfach keinen Sinn ergeben. Ich bin hingefahren, aber da war nichts zu machen. Ihre Großmutter war auch gerade gestorben. Ich hab versucht, über die FBI-Datenbank Fingerabdrücke von dem Kerl zu kriegen, aber Fehlanzeige. Wollten wissen, wie er heißt, was er getan hat und lauter solche Sachen. Am Ende steht man bloß blöd da. Er ist ein Geist. Aber er ist da draußen. Man würd’s nicht für möglich halten, dass einer einfach so auftauchen und wieder verschwinden kann. Ich warte die ganze Zeit darauf, dass ich noch mehr von ihm höre. Vielleicht passiert das ja noch. Vielleicht aber auch nicht. Es ist leicht, sich was vorzumachen. Sich was einzureden, was man gern hört. Man wacht nachts auf und denkt über alles Mögliche nach. Ich weiß nicht mehr genau, was ich eigentlich gern hören würd. Man redet sich ein, dass die Geschichte ja vielleicht vorbei ist. Dabei weiß man, dass sie’s nicht ist. Da kann man sich wünschen, was man will.
Mein Daddy hat mir immer gesagt, man soll nach Möglichkeit sein Bestes geben und die Wahrheit sagen. Es gab nichts, was einem so viel Seelenfrieden verschafft, wie morgens aufzuwachen und nicht entscheiden zu müssen, wer man ist. Und wenn man was Unrechtes getan hat, dann steht man einfach dazu und sagt, dass man’s getan hat und dass es einem leidtut, und fertig. Man schleppt nichts mit sich herum. Heute hört sich das wohl alles ziemlich einfach an. Sogar für mich. Umso mehr Grund, darüber nachzudenken. Viel hat er nicht
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