Kein Mann für eine Nacht: Roman (German Edition)
fortschrittlicheren französischen Gemeinden den fouettard längst abgeschafft, den »bösen Peitschenmann«, der ungehorsamen Schulkindern statt Weihnachtsgeschenken Ruten aus Birkenreisig mitbrachte. Die Nonnen des Konvents setzten jedoch weiterhin auf die läuternde Wirkung bei ihren Schützlingen – allerdings ohne Erfolg.
Wieder knallte er mit der Peitsche, und Fleur Savagar rührte sich nicht, obwohl sie allen Grund zur Panik hatte. Im Januar hatte sie der Mutter Oberin die Schlüssel von ihrem alten Citroën stibitzt. Nachdem sie vor allen geprahlt hatte, dass sie Auto fahren könne, hatte sie den Wagen ungebremst vor den Geräteschuppen gesetzt. Im März brach sie sich den Arm, als sie auf dem Rücken des Kutschenponys akrobatische Übungen vollführt hatte, und verschwieg dies eisern, bis die Nonnen ihren schlimm geschwollenen Arm bemerkten. Ein fehlgeschlagenes Experiment mit einem Feuerwerkskörper hatte das Garagendach in Brand gesetzt, aber das war noch harmlos, verglichen mit dem dramatischen Tag, als plötzlich alle sechsjährigen Konventschülerinnen verschwunden waren.
Der fouettard zog die verhasste Reisigrute aus einem alten Sack, ließ seine Augen über die Mädchen schweifen und konzentrierte sich auf Fleur. Mit einem vernichtenden Blick warf er ihr die Zweige vor die abgetretenen braunen Mokassins. Schwester Marguerite, die diese Sitte barbarisch fand, sah weg, die anderen Nonnen jedoch nickten zungenschnalzend. Sie hatten es wahrlich nicht leicht mit der aufbrausenden, disziplinlosen, temperamentvollen Fleur, die sich spontan in jedes Abenteuer stürzte. Und trotzdem hingen sie an ihr, weil sie am längsten bei ihnen war und weil es unmöglich war, Fleur nicht zu mögen. Was sollte nur einmal aus dem Mädchen werden, wenn sie ihrer strengen Aufsicht entzogen wäre, sorgten sie sich ständig.
Zeigte sie Reumütigkeit, ein schlechtes Gewissen, als sie die Zweige aufhob? Pustekuchen! Ihr Kopf schoss hoch, und sie warf den Nonnen ein scheinheiliges Grinsen zu. Darauf bettete sie die Zweige wie ein edles Rosenbukett in ihre Armbeuge, verbeugte sich clownhaft ungelenk und warf Handküsse ins Publikum, worauf sämtliche Mädchen losgackerten.
Nachdem vermutlich auch der Letzte begriffen hatte, dass ihr der blöde fouettard und seine albernen Reisigzweige piepegal waren, glitt sie durch die Seitentür in den Flur, schnappte sich ihren alten Wollmantel von der Garderobe und stürzte nach draußen. In der Kälte bildete ihr Atem kleine, weiße Wölkchen, als sie über die eisglatten Pflastersteine lief, nur weg von den grauen Steinbauten. In ihrer Manteltasche steckte ihre heiß geliebte blaue Kappe von den New York Yankees, die Belinda ihr im vergangenen Sommer gekauft hatte.
Fleur sah ihre Mutter nur zweimal im Jahr – in den Weihnachtsferien und vier Wochen im August. In genau vierzehn Tagen würden sie in Antibes sein, wohin sie jedes Jahr Weihnachten zusammen fuhren. Fleur konnte es kaum erwarten. Mit Belinda zusammen zu sein war das Schönste überhaupt. Ihre Mutter schimpfte nie, wenn sie zu laut redete, ein Glas Milch umstieß oder sich bekleckerte. Bei ihr durfte sie sogar fluchen. Belinda liebte sie abgöttisch.
Fleur hatte ihren Vater noch nie gesehen. Er hatte sie zu den Nonnen gebracht, als sie eine Woche alt gewesen war, und kam nie mit, wenn ihre Mutter sie besuchte. Sie hatte auch das Haus in der Rue de la Bienfaisance noch nie gesehen, wo ihre Familie lebte – ihre Mutter, ihr Vater, ihre Großmutter … und ihr Bruder Michel. Sie solle sich nichts daraus machen, beteuerte ihre Mutter jedes Mal, das sei eben so.
Sobald sie den Zaun erreichte, der den Konvent umgab, pfiff Fleur laut. Bevor sie die Zahnspange bekommen hatte, hatte das Pfeifen wesentlich besser geklappt. Etwas Entstellenderes als dieses silberne Ding konnte sie sich nicht vorstellen. Beim besten Willen nicht.
Der Braune kam wiehernd zum Gatter getrabt und stupste sie mit dem Kopf an. Das Reitpferd gehörte dem benachbarten Winzer. Fleur fand den Hengst wunderschön. Und hätte alles dafür gegeben, ihn reiten zu dürfen, aber die Nonnen erlaubten es nicht, obwohl der Winzer einverstanden war. Sich über das Verbot hinwegzusetzen und ihn trotzdem zu reiten, traute sie sich nicht. Sie hatte Angst, dass man ihr dann zur Strafe den Weihnachtsurlaub mit Belinda streichen könnte.
Fleur hatte fest vor, später eine berühmte Reiterin zu werden, ungeachtet der Tatsache, dass sie derzeit das ungeschickteste Mädchen im
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