Kein Schatten ohne Licht
weiß?“
„ Es wäre zu gefährlich, wenn diese Information überall bekannt wäre. Nur wir, Familienmitglieder der Nayigas, der Sarachows und der Sarcones wissen davon. Wir wollten verhindern, dass das Wissen in die falschen Hände gerät. Dass ausgerechnet jemand aus den Familien auf die dumme Idee kommen würde, er müsste Luzius beschwören, konnte schließlich niemand ahnen.“
Es schien, als hätte Timon mit dieser Aussage ihr gesamtes Weltbild durcheinandergebracht. Alles, was sie gewusst hatte, alles, was sie gemeint hatte, zu wissen, fiel auseinander, löste sich auf und setzte sich neu zusammen.
„ Ich hätte nicht gedacht, dass es so einfach werden würde“, gab Gregor mit einem Lächeln zu. „Es wäre jedoch morbid, sich darüber zu beschweren. Dann müssen wir uns nun nur noch auf einen Plan einigen, wie wir Luzius den Jungen am besten übergeben.“
Die Stimmung im Raum wurde kalt wie Eis. „Du willst den Jungen ausliefern?“ Isaks Entsetzen beruhigte Melica ein wenig. Offenbar war sie nicht die Einzige, die von Gregors Vorschlag abgeschreckt war. Schon die bloße Vorstellung schickte unvorstellbares Grauen über ihre Haut.
Gregor runzelte überrascht die Stirn. „Natürlich. Warum sollten wir das auch nicht tun?“
„ Weil... weil es falsch ist!“, stammelte Melica. „Sie können doch... er ist noch ein Kind!“
„ Ein Kind für die gesamte Menschheit scheint mir ein ganz guter Tausch zu sein. Manchmal muss man Opfer bringen, um an sein Ziel zu gelangen.“
„ Aber nicht in diesem Fall!“, widersprach Isak entschlossen.
Melica nickte zustimmend und sah, dass Timon es ihr gleichtat. Einzig Renate schien noch unentschlossen zu sein. Ihr Blick huschte von einem zum anderen, wirkte fiebrig und verzweifelt. Sie sagte nichts und trotzdem wusste ein jeder in diesem Raum, was sie dachte. Es gefiel niemandem, weder Gregor noch den anderen.
„ An diesem Punkt scheiden sich wohl unsere Geister“, sagte Gregor ruhig. „Der Zirkel wird darüber entscheiden.“
„ Ihr könnt euch so viel entscheiden, wie ihr wollt – der Junge bleibt bei mir!“, stellte Timon klar. „Ich habe ihn nicht umsonst hierher gebracht! Er soll in Sicherheit sein! Ich habe meine Pflicht schon einmal vernachlässigt. Nun sind seine Eltern tot, er selbst seitdem stumm! Noch einmal werde ich ihn nicht im Stich lassen.“
Deshalb hatte er also nicht mit ihr gesprochen... Verwirrt schüttelte Melica den Kopf.
Gregor sprang aufgebracht in die Höhe. „Das kann doch nicht euer Ernst sein!“ Noch nie hatte sie ihn so gesehen. Er war völlig von Sinnen, als er seine Faust auf die solide Platte seines Schreibtisches knallen ließ. Die solide Platte war nun nicht länger solide, sondern kaputt. „Versteht ihr denn nicht, wie einfach es ist? Wir haben die Möglichkeit, Luzius unter unsere Kontrolle zu bekommen! Ihr könnt doch nicht ernsthaft von mir verlangen, dass wir diese Chance ungenutzt verstreichen lassen, nur um einen einfachen Menschen zu retten!“
Das Klopfen an der Tür war laut und dröhnend. Melica wusste nicht warum, doch ein kleiner, winziger Teil ihrer Selbst bekam plötzlich das Gefühl, dass irgendetwas ganz und gar nicht nach Plan verlief.
Yvonnes verzweifelter Gesichtsausdruck trug nicht gerade zu ihrer Erleichterung bei. Melica starrte sie unverwandt an. Sie wusste genau, was kommen würde.
„ Ich weiß nicht, was passiert ist! Ich hab ihn schon überall gesucht, aber... irgendwie... irgendwie ist der Junge verschwunden!“
~*~
Zwei Tage, fünf Stunden und 47 Minuten später saß Melica auf ihrem Bett und blickte an die Decke. Diese sah noch genauso aus wie vor einer Stunde. Und auch genauso wie vor einem Tag.
Wenn Melica ganz ehrlich sein sollte, dann war sie in den letzten Stunden nicht sonderlich produktiv gewesen. Wie denn auch? Sie hatte schließlich nichts anderes getan, als dort zu sitzen und Löcher in die Decke zu starren. In einigen wenigen Stunden hatte sie sogar versucht, nachzudenken. Gescheitert war sie immer. Spätestens nach drei Minuten war aus ihren Gedanken ein großer, klobiger Klumpen geworden, ein Klumpen, mit dem sie nicht mehr anfangen konnte, als ihn in eines der Löcher zu stopfen, die sie durch ihre Blicke in die Decke gebrannt hatte. Denn spätestens nach drei Minuten war ihr die eine Frage in den Kopf geschossen, die das gesamte Antrum seit Tagen in Atem hielt. Ihre Enttäuschung darüber, dass es einen Verräter unter den Schattenkriegern geben musste, war
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