Kein Schlaf für Commissario Luciani
hatte, und nutzte die Gelegenheit, um sich zu verabschieden. Da es keinen speziellen Opferstock für seinen Heiligen gab, ging er an den nächstbesten, zog die Geldbörse aus der Tasche und schob einen Hundert-Euro-Schein in den Schlitz.
»Du weißt, dass das für mich viel ist«, sagte er. »Und das ist erst die Hälfte. Den Rest nach Erledigung des Auftrags.«
|296| Er aß eine Tomate mit zwei Blättern Salat, dann legte er sich aufs Sofa, legte eine CD mit Barockmusik ein, stellte sie ganz leise und nahm wieder die Akten zum Fall Ameri zur Hand. Er wollte nach Hinweisen auf Maurizio Merli suchen, fand sie aber nicht, er war sicherlich nicht unter den Verdächtigen gewesen, ja nicht einmal vernommen worden. Eine neue Spur. Ein Rätsel, wie Giampieri auf ihn gekommen war, wahrscheinlich hatten sie in der Tasche Barbaras ARCI-Ausweis gefunden, oder vielleicht hatte sich jemand daran erinnert, sie in dem Lokal gesehen zu haben. Er las wieder einige Seiten, bis sich plötzlich die Müdigkeit wie eine Zentnerlast auf ihn legte. Er tat gar nicht erst so, als wolle er Widerstand leisten, er wusste, dass er eine weitere schlaflose Nacht nicht überstehen würde. Also schloss er die Fenster und hoffte, dass sie Dealer, Müllmänner, Trunkenbolde und Stechmücken fernhalten würden.
Das Restaurant hatte schon seit einiger Zeit das letzte Eisengitter heruntergelassen, und der Kommissar war wieder eingeschlafen, als er aus der Ferne das unverwechselbare Knattern des Motorrades hörte. Der Fahrer kam aus der Kurve, riss das Gas voll auf und raste durch die Gasse wie ein Schlagbohrer, der immer lauter wird, aber einen Moment vor dem Höhepunkt brach das Geräusch plötzlich ab, man hörte, wie ein Körper dumpf auf dem Asphalt aufschlug, dann das Scheppern des Motorrades, das gegen den Müllcontainer krachte.
Er stieg aus dem Bett, schaute hinaus auf die Gasse. In zwei, drei Fenstern ging das Licht an. Er hörte die Stimmen der Nachbarn, die auf den Schauplatz des Geschehens hinwiesen. Der junge Mann war aus dem Sattel geschleudert worden, er lag zusammengekrümmt auf der Seite und rührte sich nicht. Einen Helm hatte er nicht getragen.
Luciani war einer der Ersten, die auf die Straße liefen, |297| ein junger Mann rief mit dem Handy einen Rettungswagen. Der Motorradfahrer atmete schwach und blutete am Kopf. Niemand wagte, ihn anzufassen, vielleicht aus Angst, die Sache noch schlimmer zu machen oder sich mit AIDS zu infizieren. Der Verletzte hatte die Physiognomie eines Marokkaners, und einen Moment lang tat er Luciani leid; wie traurig musste es sein, so fern von der Heimat zu sterben, fern von der Mutter und den Geschwistern.
Er schaute sich um und bemerkte als einziger die durchsichtige Schnur, die sich am Boden schlängelte. Eine dünne, aber starke Nylonschnur. Das eine Ende war abgerissen, es hing noch an einem Haken in der Mauer, neben dem Eingang zum Restaurant. Luciani warf einen Blick auf die Anordnung von Motorrad, Unfallopfer und Seil. Das geübte Auge eines Straßenpolizisten würde sofort erkennen, dass jemand das Seil auf etwa ein Meter dreißig Höhe über die Gasse gespannt hatte, und dass der Motorradfahrer, der mit Vollgas angerauscht kam, von diesem Seil aus dem Sattel katapultiert worden war, ehe es unter der Spannung gerissen war. Und im Handumdrehen würde der Polizist auch den Rest der Schnur mitsamt dem Knoten finden, und zwar auf der anderen Straßenseite, am Baugerüst vor Lucianis Hausfassade.
Die Sirene des Rettungswagens lenkte Luciani von seinen Überlegungen ab. Der Lärm weckte alle Bewohner des Viertels, viele liefen auf die Straße, ein paar Afrikaner kamen herbei und schauten nach, ob der Verletzte zu ihren Bekannten gehörte. Während die Leute die Erste-Hilfe-Maßnahmen beobachteten und dem Kommissar den Rücken zukehrten, schob dieser ganz nonchalant die Schnur an die Mauer, und als der Rettungswagen den mit Schläuchen gespickten Burschen abtransportierte und sich auch der letzte Schaulustige aus der Gasse verzogen hatte, löste er den Knoten neben dem Restaurant und wickelte |298| die Schnur auf. Niemand hatte bemerkt, was geschehen war, das Gesicht des Marokkaners wies keine Spuren auf, wahrscheinlich hatte er sich mit der Brust in der Schnur verfangen. Auf jeden Fall würden alle denken, dass er die Kontrolle über die Maschine verloren hatte, weil er high oder besoffen gewesen war. Marco Luciani schaute sich um und warf die Schnur mit einer beiläufigen Geste in den
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