Kein Schlaf für Commissario Luciani
schon wahrscheinlicher, dass er sie dazu gebracht hatte, die Datei verschwinden zu lassen. Sicher hatte Merli sie nicht im Affekt ermordet, sondern mit Bedacht, um sich oder vielleicht auch jemand anderen zu decken. Und dann war er selbst an der Reihe gewesen.
Der Ingenieur betrachtete die Rauchschwaden seines Joints, er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte.
Nach Merlis »Selbstmord« war der Fall zu allseitiger Zufriedenheit zu den Akten gelegt worden, die offizielle Erklärung war zurückgewiesene Leidenschaft oder etwas in der Art. Indem man jetzt ein neues Motiv aufs Tapet brachte, würde man unweigerlich einen Flächenbrand entfachen, denn dann gerieten erneut Mantero und Konsorten ins Schussfeld, und die Jungs vom Geheimdienst würden auch wieder aktiv werden. Für Barbaras Familie änderte sich dadurch nichts, und auch Merlis Schwester hatte nichts davon. Die Staatsanwältin würde Giampieri verfluchen, weil sie mit großen Tieren in den Ring steigen müsste. Auch Iaquinta würde vor Wut schäumen, und der Ingenieur würde, nachdem sich der Staub gelegt hatte, als Einziger dafür bezahlen müssen. Lohnte es sich, auf eine Beförderung zu verzichten und gar die Haut zu riskieren, nur um gegen Windmühlen zu kämpfen?
Sollte er einen Kollegen in seine Entdeckung einweihen? Er wollte die Sache vorerst für sich behalten.
Oder sollte er vielleicht Marco unterrichten? Aber der hatte nicht einmal auf die SMS reagiert. Außerdem hatte er jetzt andere Sorgen.
Giampieri nahm den letzten Zug, schaltete Telefon und Handy aus und gönnte sich eine volle Stunde Schlaf, damit er am Abend in Bestform wäre.
|354| Es war Punkt neun, als er bei Stefania klingelte. Keine Reaktion. Dann fiel ihm ein, dass sie ihn gebeten hatte, sich mit einer SMS anzukündigen.
Er gab
»Tock, tock, tock«
ein und drückte auf »Senden«. Die Antwort kam über das Handy:
»Wer ist da?«
»Der böse Wolf. Mach auf, sonst puste ich das ganze Haus weg.«
Stefania Boemi öffnete die Tür und strahlte.
»Wenn du pusten willst, dann komm ruhig rein.«
Giampieri blieb der Mund offen stehen. Überall waren Dutzende, ja Hunderte Kerzen verteilt, sie erhellten den großen Raum mit Kochnische, der als Wohn- und Esszimmer diente. Die Kerzen waren an den Wänden und auf den schiefergrauen Regalbrettern aufgereiht, sie umrahmten Stefanias formvollendetes Gesicht, ließen es ebenso madonnenhaft wie sinnlich erstrahlen und warfen zarte Kupferreflexe auf ihr blondes Haar. Der Ingenieur wagte sich zwei Schritte vor. Das Apartment war vollkommen leer, es gab keine Möbel, keine einzige Sitzgelegenheit, und trotzdem wirkte es anheimelnd und wohnlich. Das Parkett nahm das Licht der Kerzen auf und warf es gedämpft auf die weißen Wände, die Decke und Stefanias helle Haut zurück, die zum Leben erwacht schien, als saugte sie die Hitze eines Strandtages auf.
»Es ist warm«, sagte sie, »du solltest besser das Jackett ausziehen.«
Sie war barfuß und trug eine bequeme weiße Hose, die mit einer Kordel in der Taille gehalten wurde, darüber ein violettes Top, das die unverschämte Pracht ihres Busens unterstrich. Sie hatte praktisch keine Schminke aufgelegt und duftete nach Sonnenmilch. Dem Ingenieur war sie nie schöner erschienen.
»Entschuldige wegen der Kerzen, aber der Strom ist noch nicht angeschlossen. Auch das Gas nicht. Ich habe |355| nur Wasser. Hier herrscht ein bisschen Notstand. Aber ich habe es geschafft, Teller, Gläser, Besteck und eine Tischdecke zu kaufen.«
Wir hätten zu mir gehen können, wollte er sagen, doch dann hielt er sich zurück. In seiner Junggesellenwohnung hätte er nie eine solche Atmosphäre hinbekommen. Außerdem hatte er sich bei Stefania sofort heimisch gefühlt, als hüte sie einen Tempel, der ganz seinem Besuch geweiht war.
Ihre Blicke kreuzten sich, und er sah in Stefanias Pupillen sein Spiegelbild in einer lächerlichen Pose, mit offenem Mund, den Rücken leicht gebeugt, in der einen Hand ein Päckchen, in der anderen eine Flasche.
»Kann ich dir helfen?«
»Entschuldige. Hier ist eine Flasche Champagner. Die sollten wir kalt stellen. Und hier … ich habe Eis mitgebracht.«
Sie verzog das Gesicht. »Kein Strom, kein Kühlschrank, ich fürchte, wir haben ein Problem.« Sie dachte einen Moment nach. »Warte mal, den Champagner können wir auch im Waschbecken kühlen. Und das Eis stelle ich auf den Balkon.« Sie kehrte ihm den Rücken zu, und er sah durch die weiße Hose den Bogen, den ihr winziger Slip
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