Kein Schlaf für Commissario Luciani
das Motiv. Merlis Selbstmord überzeugt mich nicht. Und auch bei Nicolas Tod gibt es merkwürdige Details.«
»Zum Beispiel?«
»Das offene Fenster. Und die Markierungen.«
Diese Zeichen hatten die Jungs von der Spurensicherung am Vorabend entdeckt. Es waren dünne, farbige Fäden, die nach einem durchdachten Plan auf verschiedenen Höhen angebracht waren. Gelb-rot-grün-blau, grün-blau-gelb-rot. Vier kleine Fäden, die in jedem Fenster klemmten, so dass es unmöglich war, diese zu öffnen, ohne dass die Fäden herunterfielen. Die Zeichen musste Giampieri angebracht haben, um zu kontrollieren, ob jemand in seiner Abwesenheit die Wohnung betreten hatte. Auch vor der Tür hatten sie entsprechende Fäden gefunden. Auf der Fußmatte. Sie mussten heruntergefallen sein, als der Ingenieur nach Hause kam.
Nicola war ein umsichtiger Mensch gewesen, manchmal fast ängstlich, dachte der Kommissar. Wenn er bestimmte Vorsichtsmaßnahmen getroffen hatte, dann deshalb, weil er sich in Gefahr wähnte. Und das machte die Überdosis noch suspekter.
Aber wenn sie geschafft hatten, ihn zu linken, trotz seiner Umsicht, und das auch noch auf saubere Art, ohne Spuren zu hinterlassen, dann war die einzig mögliche Erklärung, dass ihn eine Vertrauensperson hintergangen hatte. Es gab einen Judas, einen Judas Iskariot diesmal. |382| Sein Dealer des Vertrauens. Oder ein Kollege. Oder eine Frau. Das war sein Schwachpunkt, die Frauen. Vielleicht war es eine von ihnen gewesen, eine, der er traute, die ihm die Dosis besorgt hatte.
Er rief seine Mutter an, um ihr zu sagen, dass er nicht zurückkommen würde, er ließ sich die Tante geben und bat sie, ein paar Tage länger als geplant zu bleiben und der Mutter beizustehen. Die Lebenden sollten Vorrang vor den Toten haben, doch in diesem Fall war es anders. Sein Vater konnte in Frieden ruhen, aber dasselbe galt nicht für Nicola, Barbara und auch nicht für Maurizio Merli. Zu viele Tote in zu kurzer Zeit, zu viele Zufälle. Marco Luciani jagte nicht gerne irgendwelchen Verschwörungstheorien nach, wie der Polizeichef meinte, aber an Zufälle hatte er nie geglaubt.
Er verbrachte einen Großteil des Tages mit Calabrò und Vitone, um Nicolas letzte Stunden zu rekonstruieren und Handy sowie Palm auszuwerten, aber für Samstag waren weder Termine noch Rendezvous gespeichert. Sie fuhren seinen Bürocomputer hoch, um nach Notizen zu den Ermittlungen zu suchen, aber sie fanden nichts, was Calabrò nicht schon gewusst hätte.
»Commissario, war der Ingenieur Ihrer Meinung nach alleine in der Wohnung?«, fragte Iannece. »Oder war da noch jemand, der abgehauen ist und ihn da krepieren ließ?«
»Wenn da jemand war, wird er ermittelt werden.« Und wenn ich den in die Finger kriege … Auge um Auge, dachte er, Auge um Auge.
»Meiner Meinung nach war er allein, sonst hätten wir irgendwelche Spuren gefunden«, sagte Vitone.
Calabrò ließ die Finger bedrohlich laut knacken: »Auch wenn er allein war, irgendjemand muss ihm diesen verflixten |383| Schuss besorgt haben. Und den werde ich finden, Commissario. Darauf können Sie sich verlassen.«
Doktor Vassallo entfernte sich von dem Tisch, auf dem Giampieris Leichnam lag, setzte sich auf einen Stuhl, nahm den Mundschutz ab, zog den rechten Handschuh aus und zündete sich eine Zigarette an. Er rauchte in langen wütenden Zügen, wobei er den Kopf gesenkt hielt und mit den Tränen kämpfte.
Marco Luciani beobachtete ihn durch die kleine Scheibe in der Tür. Er wartete, bis Vassallo aufgeraucht hatte, dann klopfte er ans Fenster, zuerst sachte, dann lauter.
Vassallo stand auf und kam ihm entgegen, öffnete die Tür aber nicht.
»Ich bin eben erst gekommen. Tut mir leid, dass es so spät wurde, aber ich war in Spanien auf einem Kongress, und es war nicht so einfach, zurückzukommen. Ich fange gerade erst an.«
»Darf ich eintreten?«
»Besser nicht. Ich will absolut konzentriert arbeiten. Es wird mehrere Stunden dauern, und ich werde zahlreiche Proben entnehmen müssen.«
»Das macht mir nichts aus. Ich habe das schon oft gesehen.«
Der Arzt zögerte einen Moment. Er sah völlig übernächtigt aus, seine Haut war grau und der Gesichtsausdruck so grimmig, wie Luciani ihn noch nie gesehen hatte.
Er schüttelte den Kopf. »Diesmal ist es anders. Ich will nicht, dass Sie ihn aufgesägt sehen. Ihn nicht.«
Marco Luciani senkte den Blick. Er hat recht, dachte er. Was bin ich nur für ein Mensch? Er konnte nicht so tun, als ob nichts wäre, er
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