Kein Schlaf für Commissario Luciani
auffielen.
Die Uhr auf Barbaras Schreibtisch zeigte 8.11 Uhr. Jetzt hieß es nur noch ungesehen vor die Haustür gelangen und gemächlich Richtung Wohnung joggen. Blieben zwanzig Minuten, um sich ein Alibi zu besorgen.
Zwanzig Minuten Vorsprung sind nicht viel, sagte Marco Luciani sich immer wieder und beschleunigte den Schritt. Vor allem wenn das Monster rasten sollte, um das traumhafte Panorama zu genießen, das Luciani auszublenden versuchte, indem er seinen Blick ganz auf den Weg vor sich konzentrierte. Schade, dass er nicht mit Scheuklappen unterwegs war. Er schritt voran wie ein schwarzer Racheengel, scheinbar unempfindlich gegen Kälte und Angst, und wenn er hin und wieder einen Wanderer einholte, rief er: »Entschuldigung, Entschuldigung!«, wobei sein Ton so forsch war, dass der andere sich gegen die Felswand presste und ihn passieren ließ, ohne dass Luciani sich allzu dicht an die Kante der Gletscherschlucht begeben musste. Nach etwa zwanzig Minuten Fußmarsch stieß er auf einen Bach, der den Weg überspülte und ein Weiterkommen unmöglich machte. Das Gewässer war selbst für ihn zu breit, also musste Luciani entweder hindurchwaten oder auf einem zehn Zentimeter schmalen Grat an der Felskante entlangbalancieren. Er schloss die Augen, tauchte einen Fuß ein, bis er auf den Grund stieß und hinübersetzen konnte. Das Wasser hatte sofort Schuh und Socken durchnässt, aber der Kommissar fluchte nur und setzte den Weg fort.
Es war fast eine Stunde vergangen, Marco Luciani musste jeden Moment zumindest die Nachhut der Gruppe erreichen, als plötzlich, an der soundsovielten Wegbiegung, |461| seine Beine weich wurden. Fast wäre er auf die Knie gesunken wie der heilige Paulus vor den Toren von Damaskus: Vor ihm ragte eine senkrechte Felswand etwa vier Meter in die Höhe. Daran hatte man provisorisch mit Felshaken sieben oder acht Holztritte befestigt.
Der Kommissar zitterte, und zwar nicht vor Kälte, seine Beine fühlten sich unwiderstehlich zum Abgrund zu seiner Rechten hingezogen, einer Schlucht, deren Tiefe er nicht abschätzen konnte und wollte. Zur Linken war nur die Granitwand. Hinter ihm: ein höchstens vierzig Zentimeter breiter Pfad. Hier endete der Weg. Wer weiter wollte, musste wohl oder übel die Behelfsleiter überwinden.
Marco Luciani starrte erneut die Haken und die Bretter an. Er schaute nach oben: über der Leiter ein kobaltblauer Himmel. Und eingerahmt von dem kobaltblauen Himmel ein durchtrainierter Körper, zwei eiskalte Augen, die ihn voller Verachtung musterten.
Sie schaute auf die Uhr. 8.32 Uhr. Bis zum Bahnhof waren es noch fünfzig Meter. Sie hatte das Ticket schon in der Tasche, sie konnte gemütlich zum Gleis gehen. Der Intercity hatte sowieso immer fünf Minuten Verspätung. Sie fühlte sich gut; als sie den Kopf unters kalte Wasser gehalten hatte, war fast die ganze Anspannung von ihr abgefallen, und die feuchten Haare trotzten der drückenden Hitze. Sie hatte die Joggingklamotten in den Rucksack gesteckt und in Rekordzeit ein Kleid und Schuhe angezogen, während hinter der Tür immer noch leise geschnarcht wurde. In der Bahnhofshalle grüßte sie zwei Bekannte und wechselte ein paar belanglose Bemerkungen mit ihnen, damit sie sich an sie erinnern und ihr Alibi untermauern würden.
Sie suchte nach einem leeren Abteil, was eine Weile dauerte und sie fast bis ans Ende des Zuges führte. Schließlich
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fand sie, was sie suchte, setzte sich und wartete, während ihr Herz hin und wieder anfing, wie verrückt zu schlagen.
Vor Recco stand sie auf, nahm den Rucksack und ging auf die Toilette. Sie holte den rechten Schuh aus dem Rucksack und warf ihn ins Klo. Ein paar Minuten später warf sie auch den linken weg. Den Müllsack mit dem Jogginganzug, den Socken und dem Slip steckte sie wieder in den Rucksack. Nach der Ankunft wollte sie ihn in irgendeinen Müllcontainer werfen. Sie zog aus der Außentasche des Rucksacks den Nothammer, reinigte ihn etwas gründlicher und verließ im ersten Tunnel die Toilette. Nachdem sie kontrollierte hatte, dass niemand sie beobachtete, hängte sie ihn wieder an seinen Platz.
»Bye bye, Tatwaffe«, sagte sie grinsend und ging zurück. Sie würden nie herausfinden, womit sie Barbara erschlagen hatte, und selbst wenn sie es herausfanden, würden sie nie auf die Idee kommen, dass die Waffe an ihren angestammten Ort zurückgekehrt war und durchs Land reiste. Und selbst wenn sie auch darauf kommen würden: Das wäre wie die Suche nach der
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