Kein Schlaf für Commissario Luciani
berühmten Nadel im Heuhaufen. Vor allem weil irgendein halbwüchsiger Schwachmat ihn sicher in den nächsten Tagen würde mitgehen lassen.
Emanuela Merli hob sich von der Felswand ab. Sie hatte Marco Luciani auf den ersten Blick erkannt – und begriffen, dass er alles wusste. Da stand er, der Kommissar, mitten auf dem Weg, und betrachtete sie mit einem fast ironischen Grinsen. Sie musterte seine Mokassins, seinen dunklen Anzug, das Gesicht, das so weiß war wie das Hemd, die langen, dünnen Arme, die wie versteinert schienen. Sie dachte an die Arme von Zombies, an Äste über nächtlichen Friedhöfen. Er würde nicht haltmachen, er würde sie weiter verfolgen und früher oder später stellen. Sie würde auf den Titelseiten landen, und dann im Knast.
|463| Sie wandte den Blick ab, um wieder die Berge zu betrachten, den blauen Himmel und die Wolken, die langsam aufzogen und sich finster um einen der Gipfel ballten. Knast. Eine Zelle, zwei auf drei Meter. Für mindestens zwanzig Jahre. Aus dem Augenwinkel warf sie noch einen Blick auf diesen großen dünnen Mann. Er hatte sich nicht fortgerührt, stand da immer noch, die Beine leicht gespreizt, mit seinem fiesen Grinsen. Vielleicht wartete er darauf, dass sie freiwillig herunterkam. Das konnte er vergessen.
Sie nahm den frischen Wind wahr, die wärmende Sonne, das gleißende Licht auf dem Schnee. Sie schaute ihn triumphierend an, und da setzte der Kommissar sich in Bewegung.
Marco Luciani stand seit einer Ewigkeit wie angewurzelt, die Zehen in den Boden gekrallt, den Blick auf das Mädchen geheftet. Er brauchte sie nur anzuschauen, und schon drehte sich alles, aber er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, seine qualvolle Grimasse in ein ironisches Grinsen zu verwandeln, das so viel bedeuten wollte wie: Sinnlos, wenn du abzuhauen versuchst, ich folge dir bis ans Ende der Welt. Da kannst du auch gleich runterkommen und mitgehen. Und zwar gehst du voraus. Er hoffte, seine Passivität würde wie eine Herausforderung zum Duell auf sie wirken, zu einer Art Kräftemessen, bei dem sie am Ende nur den Kürzeren ziehen konnte. Damit sie nicht merkte, dass sie sich nur umzudrehen brauchte, dem Abgrund den Rücken kehren und weiterklettern musste, um ihn für immer abzuhängen, denn diese Leiter wäre er nicht einmal um den Preis seines eigenen Lebens hochgeklettert.
Er versuchte sich ausschließlich auf Emanuelas Gesicht zu konzentrieren und alles andere auszublenden: die Felsen, |464| ihre Füße, fünf Zentimeter vor dem Abgrund, die Wanderer, die nachrückten und ihn bald auffordern würden weiterzugehen, weil er den Weg blockierte.
Allein schon bei dem Gedanken an seinen Körper, der da auf der Leiter im Nichts hing, über, neben und unter ihm: nichts, wurde er blass. Emanuela musste das erkannt haben, denn in diesem Moment blitzte in ihren Augen so etwas wie Triumph auf. Sie hatte den Schwachpunkt des Gegners gefunden, und nun würde sie ihm entkommen.
Scheiß drauf, dachte Marco Luciani. Er löste sich von der Wand, setzte den Mokassin auf die zweite Sprosse und griff mit der Hand nach der vierten.
Emanuela schaute ihren Gegner noch einmal herausfordernd an. Ich gewinne, dachte sie. Sie wandte sich dem Abgrund zu, schloss die Augen, breitete die Arme aus und lächelte.
Er sah sie nach vorne fallen wie ein Kruzifix, das sich plötzlich von der Wand löst, sie segelte dreißig, vierzig Meter ruhig durch die Luft, ehe ihr Körper herumgewirbelt wurde. Seine Knie wurden weich, und der nasse Schuh verlor seinen Halt auf dem Holztritt. Er würde gleich ohnmächtig werden und versuchte, sich mit beiden Händen an die Bretter zu klammern. Doch er konnte sich nicht halten, schlug mit dem Gesicht gegen den Steig und fiel zu Boden wie ein nasser Sack.
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|465| Epilog
Montag
»Habt ihr das vom Kommissar gehört?«
»Ja.«
»Das gibt’s doch nicht. Ich glaube es einfach nicht.«
»Ich auch nicht. Das kann so nicht enden. Das ist absurd. Weißt du, was der noch alles hätte tun können? Und hier, ohne ihn und ohne Giampieri …«
Iannece seufzte: »Ihr wisst, wie es heißt: Die Besten gehen zuerst.«
»Das reicht jetzt«, sagte Calabrò, »es bringt nichts, wenn wir nur rumjammern. Ich habe einen Plan.«
Polizeichef Iaquinta öffnete die Schreibtischschublade und holte Marco Lucianis Entlassungsgesuch hervor. Er hatte es in den letzten Tagen immer wieder zärtlich gestreichelt, und jetzt fühlte er sich fast schuldig. Man sollte
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