Kein Schlaf für Commissario Luciani
etwas, nur dass sie in einer Bar in Rapallo saßen, Händchen hielten, und dass er ein bisschen … komisch aussah, mit einer Tätowierung auf dem linken Arm. »Was für eine Tätowierung?«, fragte Giampieri. »Keine Ahnung«, antwortete der Onkel, »so ein modernes Ding, das um den ganzen Arm herumgeht.« Der Ingenieur machte sich eine Notiz und dachte, wenn sie alle Tätowierten von Rapallo überprüfen müssten, dann würden Jahre vergehen, ehe sie den Richtigen fänden. Er ließ sich den Namen der Bar geben und schickte einen Beamten zur Kontrolle hin. Auch wenn es, solange nicht das Gegenteil bewiesen wurde, noch kein Verbrechen war, mit einem Mädchen Kaffee zu trinken.
Am Abend, als alle gegangen waren und er seine Ruhe hatte, schaltete er den Computer ein, schob seine CD hinein und startete die Software, an der er schon seit Jahren arbeitete und die er vor wenigen Monaten fertiggestellt hatte: eine Art Datenbank mit allen wichtigen Einzelheiten sämtlicher italienischer Mordfälle der letzten zwanzig Jahre. Sobald er ein bisschen Zeit hatte, aktualisierte er das Programm, sein nächstes Ziel war, die letzten fünfzig |85| Jahre zu katalogisieren, dann das ganze zwanzigste Jahrhundert. Die Recherche war äußerst aufwendig, nicht nur wegen der gewaltigen Datenmenge, sondern weil diese Daten auch schwer zu beschaffen waren, denn es mussten die Informationen der Presse mit denen aus Polizei-, Carabinieri- und Justizarchiven abgeglichen werden. Je mehr Mordfälle man archivierte, desto besser funktionierte das Gesetz der großen Zahlen, so dass die besonderen Fälle schlichtweg zu Ausnahmen wurden, die die statistische Genauigkeit der Software nicht allzu sehr tangierten.
Der Ingenieur gab zu jedem Mordfall Name, Geschlecht, Alter, Beruf des Opfers, Tag, Ort und Uhrzeit der Tat ein, Tatwaffe, Motiv und natürlich Geschlecht, Alter und Beruf des Schuldigen, sofern die Identität geklärt war. Außerdem notierte er viele zweitrangige Details, die nicht in die automatische Suchmaschine eingespeist wurden, im Bedarfsfall aber abgerufen werden konnten. Sein Traum wäre gewesen, in einem einzigen EDV-Archiv alle jemals weltweit begangenen Morde zu speichern, ausgehend vom ersten (Opfer: Abel, Alter: ca. achtzehn Jahre, Beruf: Schafhirte. Täter: Kain, Alter: ca. zwanzig Jahre, Beruf: Landwirt. Tatwaffe: Stein. Motiv: Neid. Verwandtschaftsgrad: Brüder) bis zum letzten, dem der bedauernswerten Barbara, um so den nächsten verhindern zu können, denn je genauer die Verbrechensgraphik in allen Einzelheiten war, um so eher ließ sich ein zukünftiger Mord voraussehen. Beispiel: Wenn du die zweiunddreißigjährige, getrennt lebende Frau eines vierzigjährigen Wachschutzmannes bist, der Antidepressiva nimmt und schon zweimal wegen Übergriffen in der Familie angezeigt wurde, wenn dir sowohl Wohnung wie Sorgerecht für die beiden Kinder (neunjähriger Junge und fünfjähriges Mädchen) zugesprochen wurden, wenn du einen neuen Partner hast und der Wachschutzmann dich anruft und um ein Treffen bittet, weil er |86| sich ein letztes Mal mit dir aussprechen will, nun, Mädchen, dann solltest du lieber die Beine in die Hand nehmen.
Er hatte Idee und Software patentieren lassen, und er träumte davon, sie eines Tages an alle Polizeieinheiten der Welt zu verkaufen, die durch die Anwendung gleichzeitig das gigantische Zentralarchiv aktualisieren würden, welches wiederum allen Nutzern zur Verfügung stand.
Fürs Erste wollte Giampieri sich jedoch auf die in Italien verübten Morde konzentrieren, denn: andere Länder, andere Sitten, auch unter Mördern; hätte man zum Beispiel einige Tausend Frauenmorde aus dem Mittleren Osten, die als Motiv die Ehrenrettung hatten, ins Programm eingespeist, dann wäre die Suche nach dem Mörder Barbara Ameris völlig aus dem Ruder gelaufen.
In der Vorwoche war der Ingenieur damit fertig geworden, sämtliche Morde des Vorjahres einzugeben: Siebenhundertzehn Fälle, wobei sich die Tötungsdelikte in der Familie (hundertsiebenundachtzig) zahlenmäßig immer mehr denen des Organisierten Verbrechens näherten (zweihundert). In siebzig Prozent der Fälle war das Opfer weiblich, der Täter in achtzig Prozent männlich. Streitereien und Eifersucht oder zurückgewiesene Liebe standen bei den Motiven ganz oben (jeweils dreiundzwanzig Prozent), während man bei jedem dritten Fall als Motiv einen psychischen Defekt von Opfer oder Täter bzw. einen Anfall von Wahnsinn vorliegen hatte.
Zu heiraten und
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