Kein Schlaf für Commissario Luciani
geschiedener Eltern, die kaum Geld hatten. Er hatte nie eine Lira in der Tasche, und ihm schien das Schicksal bevorzustehen, das fünfundsiebzig Prozent der Jugendlichen aus dem Viertel ereilte: Er musste sich mit irgendeinem unterbezahlten Handlangerjob zufriedengeben oder versuchen, |166| mit mehr oder weniger halbseidenen Geschäften zu ein wenig Geld zu kommen. Während des Studiums hatte Giampieri ihn völlig aus den Augen verloren, und er war nicht allzu erstaunt gewesen, als er ihn auf der Dienststelle wiedersah. Der Dienst bei Polizei, Carabinieri oder Armee stellte die restlichen fünfundzwanzig Prozent an Zukunftsperspektive dar.
Sie gingen wie immer in eine Rosticceria in der Nähe, wo man ihnen einen Tisch reserviert hatte, aßen Farinata, Minestrone und Kastanienkuchen und gönnten sich einen halben Liter Rotwein. Und wie jeden Samstag händigte Risi Giampieri eine Videokassette aus, die er persönlich hergestellt hatte.
»Ich habe dir den jüngsten Batman mitgebracht.«
Giampieri warf schnell einen Blick auf die Hülle, eine perfekt gescannte Kopie. Sah aus wie das Original.
»Wie ist er?«
»Super. Wirst sehen.«
Die Kellnerin kam mit dem Kaffee. Ein Mädchen von vielleicht zwanzig Jahren mit gepierctem Bauchnabel, drei Ringen in der Nase und kurz geschorenen schwarzen Haaren, durch die sich feuerrote Streifen zogen. Sie beugte sich nach vorne, um die Tassen abzustellen – von einem Büstenhalter hatte sie natürlich nie gehört. Sie schenkte Giampieri ein ganz besonderes Lächeln, das er erwiderte, indem er mit Müh und Not einen Mundwinkel bewegte. Zu jung und zu punkig, dachte er, während er, wie immer, die Rechnung bezahlte und, wie immer, zwei Euro Trinkgeld daließ. Er verabschiedete sich am Bahnhof von Risi, sein Kollege hatte schon Feierabend, während ihn noch viele Arbeitsstunden von seinem Batman trennten.
»Gibt es Neuigkeiten?«
Stefania Boemi setzte ein müdes Lächeln auf, als wollte |167| sie zeigen, dass sie selbst enttäuscht war. »Ein paar Kleinigkeiten. Haben Sie fünf Minuten?«
Giampieri setzte sich und bot ihr ebenfalls einen Stuhl an. Er bedauerte, dass das Mädchen keinen Rock, sondern Jeans trug, aber dafür würde er sich zumindest besser auf ihren Bericht konzentrieren können. Auch wenn das schulterfreie Top, das ihren fülligen Busen betonte, eine ziemliche Ablenkung darstellte.
»Ich habe mich mal eingehend mit Tiziana, Barbaras Freundin, unterhalten. An dem Abend, an dem das Foto gemacht wurde, feierten sie Michela Piccos Junggesellenabschied, wenn man das bei einer Frau sagen kann. Natürlich nichts wirklich Unanständiges. Keine Show der California Dream Men, kein Diskobesuch bis in die Morgenstunden, kein Wiedersehen mit den verflossenen Liebschaften vom Schulhof. Sie sind ins Saffophone gegangen, ein Schwulen- und Lesbenlokal in Santa Margherita, das war für sie schon der Gipfel an Schlüpfrigkeit, sie meinten, wer weiß was anzustellen. Michela hatte lachend protestiert: ›Ihr wollt ganz sicher gehen, dass ich heute Abend nichts mehr anstelle‹, und Barbara antwortete: ›Warum nicht? Das ist doch die Gelegenheit, mal was anderes auszuprobieren, das wirst du später mit deinem Mann nie wieder erleben.‹ Solche Sachen halt. Sie lachten, es war ein lustiger Abend, einige Mädchen kamen auch an ihren Tisch, merkten aber sofort, dass die Clique nicht deshalb gekommen war. Tiziana sagt, dass auch sie das Foto aufgehoben hat, sie ließen für jede einen Abzug machen. Dann wurde sie traurig und sagte: ›Es war ein schöner Abend, und ich spürte, dass etwas zu Ende ging, ich hatte so eine Vorahnung, dachte aber, ist ja klar, Michela heiratet und zieht nach Mailand … Stattdessen ist Barbara für immer von uns gegangen.‹ Sie kann es immer noch nicht glauben, kann es sich einfach nicht erklären, keine von ihnen. Sie meint, sie habe unheimlich lange mit |168| Michela und Alessia geredet, und wenn sie auch nur den geringsten Verdacht gegen den Anwalt oder sonst jemanden hätten, würden sie es uns sofort sagen.«
»Und was hat sie dir über Barbara erzählt? Wirkte sie besorgt? Sonderbar? Hatte sie über Probleme am Arbeitsplatz geredet? Oder von einer neuen Männerbekanntschaft?«
»Nein, jedenfalls scheint ihr das nicht so. Sie sagt, Barbara sei ein wenig traurig gewesen, weil Michela wegzog. In Sachen Männer hat sie das wiederholt, was wir schon wussten: Sie hatte ganz wenige Beziehungen und eine schwere Enttäuschung hinter sich, deshalb ließ
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