Kein Schlaf für Commissario Luciani
in Gruppen an, einige hatten selbstgemalte Schilder oder sogar die Standarten von Clubs und Verbänden; Luciani sah eine Pfadfinder-Flagge und hörte den Sprecher einer Hilfsorganisation, die sich für Zentralafrika engagierte, dann einen gewissen Pater Mariano, der erzählte, wie sich Barbara beim Engagement für die Hilfsbedürftigen hervorgetan hatte, für Obdachlose und Prostituierte, und er fand auch die Zeit, die Tragödie der Comboni-Mönche zu schildern, die zwischen verschiedene Guerilla-Fronten geraten seien; hinter dem Transparent von Rapallo Quattromila schaltete sich ein anderes Mädchen mit Männerfrisur und wunderschönen blauen Augen ein. Für einen Moment war sie der Star des Abends: »Ich bin Emanuela. Ehrlich gesagt kannte ich Barbara nur vom Sehen, aber Giulio Mantero kenne ich schon viele Jahre. Er ist ein gütiger und großzügiger Mann, und er kann nicht getan haben, was man ihm |158| vorwirft.« Mehrere junge Leute neben ihr nickten, dann wurde sie unsanft von einer Greisin weggeschoben, die von Oddone Mantero zu reden anfing, einem Wohltäter der Stadt, der würdige Vorfahr eines solchen Sohnes: »Wenn er noch am Leben wäre, hätte niemand gewagt, den Namen seiner Familie in den Schmutz zu ziehen.«
Der Kommissar wunderte sich, dass ein einfaches Ermittlungsverfahren eine derart massive Reaktion auslöste. Geschäftsleute, Rentner, Anwaltskollegen und Priester defilierten vor dem Mikro vorbei. Allesamt bereit, sich solidarisch zu erklären und Manteros absolute Integrität und Herzensgüte zu bezeugen. Es reicht nicht, ein guter Mensch zu sein, um so viel Zuneigung zu wecken, dachte Marco Luciani. Wenn du nur ehrlich und anständig bist, legt keiner für dich die Hand ins Feuer, sobald du im Schlamassel steckst. Das muss jemand sein, der vielen Leuten einen Gefallen getan hat, sagte er sich. Leuten, die eine panische Angst davor haben, dass er im Knast landen und jemand die Nase in seine Geschäfte stecken könnte«
|159| Samstag
Giampieri
Der Ton von Presse und Fernsehen war inzwischen völlig umgeschlagen. Hatte man sich am Freitag, nach Eröffnung des Ermittlungsverfahrens, noch überraschend zurückhaltend gezeigt, so hatten die Talkshow und der Fackelzug am Vorabend dafür gesorgt, dass sich eine geschlossene Front zur Verteidigung Manteros gebildet hatte. Wer Barbara getötet hatte, wussten sie nicht, sie wussten aber, wer »sie ein zweites Mal tötete«: Staatsanwaltschaft und Polizei, die fast eine Woche nach der Tat nichts Besseres zu tun wussten, als den leichtesten und naheliegendsten Weg einzuschlagen: sich auf Anwalt Mantero einzuschießen. Mindestens fünf Zeitungen brachten ein langes Interview mit ihm, und drei oder vier Magazine kündigten »exklusive Enthüllungen« über sein Leben an, von der Klinik, die er in Bosnien gebaut hatte, über das Waisenhaus, das er den somalischen Behörden geschenkt hatte, bis zur, inzwischen als sicher geltenden, Seligsprechung seines Onkels, des Missionars.
Giampieris Büro war vollgestopft mit Zeitungen, die er vor Wut zerknüllt, zerfetzt oder einfach vom Schreibtisch gefegt hatte.
Iannece versuchte ihn zu trösten: »Hören Sie nicht auf das, was die schreiben. Die hängen ihr Fähnchen nach dem Wind. Jetzt sagen sie, dass Sie ein Trottel sind, aber sobald Sie den Mörder fassen, werden Sie sagen, Sie seien ein Genie.«
Giampieri zog es vor, über den tieferen Sinn dieses Satzes nicht nachzudenken.
|160| »Wie dem auch sei, Ingegnere, für mich ist die Geschichte sonnenklar, die hat der Anwalt umgebracht, fertig aus. Der ist am Morgen aufgestanden, war scharf, hat sich an sie rangemacht, sie hat ihm Bescheid gestoßen, er ist durchgedreht und hat sie abgemurkst. Dann ist er zu Mutti gerannt, und die hat alles saubergemacht, hat alle Spuren verschwinden lassen.«
»Ich hoffe wirklich, dass du Recht hast, Iannece. Wir werden es sowieso bald erfahren, wenn Mantero es war.«
»Ach ja? Und wie?«
Giampieri setzte ein wissendes Lächeln auf: »Er wird es uns selber sagen.«
Eine sengende Sonne hing über Rapallo, obwohl es noch nicht einmal zehn Uhr war. Am Eingang zur Bar Aonda saß die Kassiererin, die Augen zum Schutz gegen das grelle Licht halb geschlossen, einen Werbeprospekt als Fächer wedelnd. Sie dachte an den Strand, am liebsten wäre sie sofort ins kalte Nass gesprungen. »Mamma mia, wenn das so weitergeht, überstehe ich den Sommer nicht.« – »Wohl wahr,« erwiderte die Barfrau, »ich habe die ganze Nacht kein
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