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Keine Angst

Keine Angst

Titel: Keine Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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stehen.
    Seine Hände zitterten. Nacheinander versuchte er alle Schlüssel, ohne Erfolg.
    Unmöglich!
    Koch hatte nur den einen Bund bei sich gehabt. Der Schlüssel mußte dabeisein.
    Da war sie wieder, die Panik.
    Es dauerte eine längere Weile, bis Schlemmer sich soweit beruhigt hatte, daß er es noch einmal versuchte. Diesmal hatte er Glück. Die schwere Tür mit den Schnitzereien und dem gelblich angelaufenen Riffelglasfenster schwang leise knarrend auf. Schlemmer huschte ins Innere, schlug sie hinter sich zu und lehnte sich dagegen.
    Verdammt, der Wagen! Hatte er auf die Schilder geguckt? Uneingeschränktes Halteverbot und so?
    Wenn sie kamen, um ihn abzuschleppen!
    Nein, nein, nein! Mann, Schlemmer! Doch nicht um fünf Uhr morgens.
    Ruhig. Ganz ruhig. Bist doch der Schlemmer mit dem großen Glück. Konzentrier dich lieber auf die Zukunft mit ihren sieben fetten runden Nullen und der stolz geschnäbelten Eins davor.
    Gaaaaaaaaaaanz ruhig.
    Es klappte. Ganz ruhig mit drei Dutzend a wurde er zwar nicht, aber wenigstens hörte das Zittern auf. Schlemmer huschte die Diele entlang, betrat das Zimmer, in dem sie gesessen hatten, würdigte es weiter keines Blickes und ging ins Nebenzimmer.
    Riesig, war sein erster Eindruck.
    Dann schrak er zusammen. Aus dem Halbdunkel starrte ihn jemand aus kugelrunden, tellergroßen Augen an. Diesmal setzte sein Herzschlag tatsächlich aus, was ihm einen Vorgeschmack auf den Tag X vermittelte. Er würde also hier sterben, vor lauter Schreck. Nicht ganz Sinn der Sache. Zumal das Monstrum mit den Kulleraugen, wie er jetzt erkannte, nur eine weitere Puppe war, eine mindestens zwei Meter große Adaption der kleinen Stockfiguren, die er so gut kannte.
    Der Urheber seines panischen Schreckens war niemand geringerer als das Hänneschen persönlich.
    Immerhin. Die Hauptfigur.
    Schlemmer wischte seine nassen Handflächen an der Hose ab und ließ den Blick kreisen. Nach und nach schälten sich auch hier die abenteuerlichsten Gestalten aus dem Zwielicht. Obschon es draußen mittlerweile hell und sonnig war, fiel wenig Licht durch die hohen, schmalen Fenster. Die Wirklichkeit wich der Wahrscheinlichkeit, und Kochs seltsame Mitbewohner erwachten zu reglosem Leben. Schlemmer fragte sich angstvoll, wie er inmitten dieser Hundertschaften je das Versteck finden sollte. Kein Fleck, den die Puppen nicht verbargen, kein Weg, den sie nicht verstellten, kein Platz, den sie nicht in Anspruch nahmen. Auch die übrigen Räume, darunter ein düsteres, zum Hof gelegenes Eßzimmer, eine Bibliothek, in deren Regalen kein weiteres Buch mehr Platz gefunden hätte, sowie das schimmelig riechende Schlafzimmer dienten Legionen von Puppen als Refugium. Winzig war die Küche, das Bad nicht mehr als eine nachträglich eingebaute Dusche in unmittelbarer Nachbarschaft zum Klosett, das bei fast vier Metern Deckenhöhe am Grunde eines Schachts zu stehen schien. Aber selbst in diesen Zellen hatte Koch noch Platz für seine bizarren Lieblinge gefunden. Ihre Hände und Händchen, Klauen, Pranken, Tatzen und Krallen, schienen sich unter leisem Knacken zu bewegen, wenn Schlemmer nicht direkt hinsah. Jedes Geräusch entfachte in ihm die Vorstellung, daß sich eine der hölzernen Gestalten langsam von ihrem Platz herunterließ, um sich ihm auf Zwergenfüßen zu nähern. Die geschnitzten, modellierten, gegossenen und genähten Gesichter verzogen sich zu Fratzen grausiger Lustigkeit, es raschelte, wisperte, zuckte und krabbelte, bis Schlemmer es nicht mehr aushielt und zurück in die Diele floh, den einzigen puppenfreien Ort in dieser ganzen verwunschenen Wohnung, die Kochs Gruft zu Lebzeiten geworden war, zum Hort seines Wahnsinns.
    Kein Wunder, daß der Alte nicht mehr unter die Menschen gefunden hatte.
    Moment mal.
    Schlemmer runzelte die Stirn. Langsam ging er die Diele einmal auf und ab, durchdrungen von der unerklärlichen Gewißheit, hier die Antwort auf die Frage nach dem Geldversteck zu finden. Oder bereits gefunden und noch nicht erkannt zu haben. Betrachtete prüfend jeden Quadratzentimeter, strich mit der Hand über die Rauhfaser, untersuchte eingehend das Regal und dessen Inhalt, riß schließlich an dem Teppichboden, bis er ein Stück davon zurückklappen und daruntersehen konnte.
    Hölzerne Bohlen, gescheckt von Resten eines uralten Anstrichs, kamen zum Vorschein. Sonst nichts.
    Und wenn schon! Die Diele hielt des Rätsels Lösung bereit. Schlemmer war sich jetzt so sicher, daß er sein Herz darauf verwettet hätte.

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