Keine Angst
Studium entweder gar nicht erst zu schaffen oder im Falle unvorher-gesehenen Bestehens an der Jobfront abzustinken – mutieren wir zu ameisenhaften Anwärtern auf ein akademisches Utopia, denen nach und nach alle nicht Studierenden Freunde weglaufen. Was bleibt, sind Kommilitonen und ein Lustverlust, der schmerzlich wäre, bliebe genug Zeit, ihn überhaupt zu registrieren, was nicht der Fall ist.
Zerstreuung verheißen die Studentenfeten, zu denen natürlich nur Studenten kommen. Sie finden statt in zu kleinen Wohnungen und in unmittelbarer Nähe über-dimensionierter Plastikschüsseln voller in Billigmayonnaise erstickter Kartoffelscheiben und verkochter Nudeln, die sich kalt und glibberig zehn Liter Fassungsvermögen mit drei kleingeschnittenen Fleischwürsten teilen und aufgrund dessen die irrige Bezeichnung Salat für sich in Anspruch nehmen. Man macht sich keine Vorstellung davon, wie aufreibend solche Abende sind. Spätestens, wenn die leeren Fässer mit den vollen gleichziehen und das Wort »Präze— denzfall« zwei s nach dem ä aufweist, gerät das feinge-sponnene Kolloquium zum Taumel wüst kopulierender Paragraphen und endet fast immer in einer Schlägerei und so gut wie nie im Bett. Studieren und Sex sind, wie schon gesagt, zwei Enden einer Welt ohne Verbindung miteinander. Eher erreicht man den Mars mit der Tram.
Ich erzähle das alles, um Sie mit meinem Dilemma vertraut zu machen. Es bedurfte weniger Minuten in der Dampfsauna, und ich wurde mir der Schemenhaftigkeit meines Daseins bewußt. Wen kannte ich schon? Trat ich vor einen Spiegel, sah ich in die Augen meines einzigen Freundes. Das mag polemisch klingen, aber manche angehende Akademiker glauben tatsächlich, das Leben spiele sich zwischen Einbanddeckeln ab. Nur, daß sie selber unfähig sind, sich eine Rolle reinzuschreiben. Sie kennen es ja gar nicht anders, als daß immer schon vorher alles in den Büchern steht, also auch, wer ihre Freunde sind, wo sie ihren zukünftigen Ehepartner kennenlernen, ob ihre Kinder die statistischen zwokommadrei Meerschweinchen pro Familie quälen oder fünf Sechstel Hund spazieren-führen werden, letztendlich, wer sie selber sind und ergo, wie sie enden werden. Im Zweifel als Kurvendiskussion.
Etwa so erschien mir mein Leben. Im Grunde machte es keinen Unterschied, ob ich in diesem partikelreichen Raum saß oder über den Ring spazierte. Die Menschen blieben Umrisse, weil ich selber einer geworden war. Das Lernen war mein Dasein, über dem ich vergaß, das Dasein zu erlernen. Schön gesagt, finden Sie nicht?
Ich saß also da und sah an mir hinunter. Abgesehen von einem leicht leptosomen Körperbau empfand ich mich als durchaus betrachtenswert. Warum sah mich dann niemand an? Zwischen meinen Beinen baumelte ein schlaffes Wurstgebilde, das ich in letzter Zeit ausschließlich zum Pinkeln hervorgezuppelt hatte. Morgens, wenn ich versuchte, den Radiowecker mit dem Kopfkissen zu treffen, drückte es sich hart und pochend gegen meinen Bauch, als wolle es mich daran erinnern, daß es wider die Natur des Mannes sei, ausschließlich die Nase in gelehrte Schriften zu stecken. Spätestens im Bad verschrumpelte es dann wieder zum devoten Wasserspeier. Ich war sechsundzwanzig Jahre alt und huldigte ganz offenbar dem Zölibat.
Dann traf ich Maren.
Seltsam, daß man gerade an den Menschen, die einem später übermäßig viel bedeuten, anfangs vorbeiläuft. Man sieht sie, sagt guten Abend und schließt alles weitere aus. Nicht mangels Phantasie oder Vertrauen in den immanenten Don Juan. Man ist nur hoffnungslos verbrasselt im Kopf. Ich kannte eine angehende Medizinerin, die aus Versehen den Falschen geheiratet hat. Sie konnte sich einfach nicht mehr erinnern, in wen sie sich verliebt hatte. Dafür verfaßte sie eine exzellente Doktorarbeit und widmete sich ihrer Berufung im folgenden mit solcher Inbrunst, daß sie zu Lebzeiten heilig gesprochen wurde und von der Beerdigung des früh verstorbenen Ehemanns erst aus der Zeitung erfuhr.
Sie meinen, das sei gelogen? Ich weiß es nicht. Ich weiß überhaupt nichts mehr. Es wird Zeit für die kleinen weißen Dinger. Sie sollen mir die Tabletten bringen! Die Wände kommen näher!
11. März 1997
Oh, mir geht’s gut!
Ich habe zwei Tage lang geschlafen. Das mit der Ärztin war natürlich gelogen. Sie sollten das wissen, um mich hinterher nicht der Unaufrichtigkeit zu bezichtigen, denn alles weitere, was ich berichten werde, ist von abgrundtiefer Wahrheit und
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