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Keine Angst

Keine Angst

Titel: Keine Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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einer, der alles gesehen hatte. Alles, was der Krieg über einen Menschen ausschütten kann. In Reims, wo er herkam, erwartete ihn keine Zukunft, also verdingte er seine Arbeitskraft beim Feind. Da er ja nun mal was von Zahlen verstand und fließend deutsch sprach, kam er mit Habermas ins Geschäft. Wissen Sie, wo sie sich kennengelernt haben? Hier. Vernon war mit Freunden unterwegs, sie hatten schon ein paar intus, und Habermas setzte gerade zur ersten Runde Roulette an. Er lud Vernon ein, zu verlieren. Aber Vernon gewann. Sie spielten sechzehn weitere Runden, und Vernon enttarnte den Agenten jedesmal, wenn er ihn erwischte. Das war dem alten Habermas noch nie passiert. Er war so beeindruckt, daß er Vernon einen Posten bot.«
    »Und Vernon ist hoch eingestiegen.«
    »Er ist tief unten eingestiegen und schnell hochgekommen. Keine Ahnung, was in Habermas damals vorging, aber Vernon mochte er tatsächlich. Nicht, daß er ihm die Hölle seiner Niederträchtigkeiten erspart hätte. Aber Vernon verstand sich auf die Kunst der Kontradiktion, was dem Alten einen gewissen Respekt abnötigte. Vielleicht auch, daß er sich nur amüsierte wie ein Vater, wenn der kleine Sohn mit Fäusten auf ihn losgeht. Ja, sicher war es so, daß er in Vernon eine Art Sohn sah, denn Habermas hatte keinen warmen gesunden Samen, um Nachwuchs in die Welt zu setzten, er konnte nur ernten.«
    Ihre Ausdrucksweise setzte den Sammler zunehmend in Erstaunen. Sie schien vergessen zu haben, daß sie allabendlich die Rolle einer einfachen, sentimentalen Alten spielte, die eben genug auffiel, um übersehen zu werden. Alles in ihr flehte danach, zurückkehren zu dürfen an die Tische der Bedeutsamkeit und gehört zu werden.
    »Jedenfalls«, fuhr sie fort. »Vernon machte seine Sache gut im Habermas-Imperium – all die Thekenwirtschaft, die Immobiliengeschäfte, Industriebeteiligungen, und was sonst noch, wovon meistenteils keiner etwas wissen durfte, die allerschlimmsten Sachen! Er kümmerte sich um den ganzen Kram, und die Geschäfte liefen. Was zwangsläufig dazu führte, daß Vernon Habermas’ Vertrauen in gleichem Maße gewann, wie er seine letzte Scheu vor ihm verlor. –« Sie machte eine Pause. »Bis er schließlich gleichzog.«
    »Gleichzog?«
    »Habermas hat es wohl so gesehen, daß sie einander liebten und haßten. Vernon sah es anders. Über die Jahre hatte sich in ihm der Haß zur einzig beherrschenden Kraft ausgewachsen. Er haßte die Überheblichkeit und Launen-haftigkeit des Alten. Er haßte es, daß Habermas in den teuersten Lokalen Kölns das Arschloch heraushängen ließ, sehr wohl wissend, daß er sich fürchterlich danebenbenahm. Er haßte Habermas’ Menschenverachtung, sein süffisantes Grinsen, seinen unschuldigen Kleinjungenblick, seine Bauernschläue, die Art, wie er Yvonne behandelte, wie er jeden behandelte.
    Nicht lange, und er haßte auch das Spiel. Inzwischen haßte er es sogar, daß er der einzige war, der Habermas darin schlagen konnte. Nicht einmal das machte ihm mehr Freude. So war das. Sicher anders, als es hätte sein sollen.«
    »Mhm.« Der Sammler stützte das Kinn in die Hände. »Das ist also die Geschichte vom kölschen Roulette.«
    »Nein«, sagte die Spinnwebfrau. »Das ist sie nicht.«
    »Nicht? Ich dachte …«
    »Nicht die eigentliche Geschichte. Die vollzog sich in der Nacht auf den 24. Juni 1953 gegen ein Uhr morgens, als ein letztes Mal der Kranz gefüllt wurde. Niemand hat seither wieder Roulette gespielt.« Ihr Tonfall sank zu einem Flüstern herab. »Und niemals wieder wird es einer spielen – hoffe ich.«
    »Was ist passiert?«
    Sie beugte sich vor und senkte ihre Stimme noch weiter, als solle niemand das Geheimnis erfahren außer ihm.
    »Sie waren zu dritt, Habermas, Yvonne und Vernon. Alle anderen gegangen. Hatte ich schon erwähnt, daß Habermas einen Schlüssel zum Brauhaus besaß? Er konnte nach Belieben auf-und abschließen, und sie ließen sogar ein Faß für ihn angestochen, damit er sein Spiel endlos fortsetzen könne, mit wem auch immer. So … bedeutend war dieser Mann!«
    Das Wort »bedeutend« spuckte sie geradezu aus.
    »Irgend etwas schien ihn fröhlich zu stimmen in dieser Nacht. Eine unheilige Fröhlichkeit, die über ihn gekommen war wie eine Krankheit. Sie hockten um einen der Nischentische herum, während sich nach allen Seiten das dämmrige Gitterwerk der umgedrehten Stühle erstreckte. Yvonne war so müde! Können wir endlich gehen, fragte sie immerzu, aber Habermas lachte und

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