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Keine Gnade

Keine Gnade

Titel: Keine Gnade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Annechino
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physischen Existenz ein Ende, doch wie konnte sie seine emotionale Präsenz aus ihrem Kopf verbannen?

    Kurz vor zwölf Uhr steht Simon Kwosokowski neben einer Liege und betrachtet die Gruppe der angespannt wirkenden Menschen, die seiner Hinrichtung beiwohnen werden. Der Gefängnisleiter steht neben ihm.
    Â»Möchten Sie noch etwas sagen?«, fragt der Beamte.
    Â»Ich bereue es zutiefst, dass ich es nicht geschafft habe, mein Versprechen, das ich dem Allmächtigen gegeben habe, zu erfüllen. Ich kann nur hoffen und beten, dass ein anderer wahrer Gläubiger in meine Fußstapfen tritt und Gottes Werk fortführt.«
    Die Zuschauer sitzen ruhig da und schauen zu. Als der Tod näher rückt, lächelt Simon sie an und hofft, sie verstehen, dass er nicht die geringste Reue spürt. Zwei Gefängniswärter schnallen Simon auf der Liege fest – Arme, Beine und Oberkörper. Der Techniker legt einen intravenösen Zugang an Simons Arm. Er konnte die drei Glaszylinder auf dem Tisch daneben sehen, jeder mit einem tödlichen Medikament gefüllt, das seinem Leben ein Ende setzen würde. Er schaut den Gefängnisleiter an und sieht den selbstgefälligen siegesgewissen Ausdruck auf seinem Gesicht. Die Zuschauer auf der anderen Seite des verspiegelten Fensters kann Simon nicht sehen, er fragt sich aber, ob Sami Rizzo unter ihnen ist. Er hat ihren Brief dreimal gelesen und war jedes Mal ein wenig ratloser. Dass sie ihm vergeben konnte, überstieg seine Vorstellungskraft. Zum ersten Mal, seit er sie getroffen hatte, bewunderte er sie. Denn er könnte niemals so versöhnlich sein. Und in gewisser Weise hatte sie ihn besiegt.
    Um genau zwölf Uhr gibt Gefängnisleiter Marshall dem Techniker ein Zeichen, und er drückt einen roten Knopf mit der Nummer eins. Langsam wird die erste Flüssigkeit in einem der Glaszylinder nach unten gedrückt, und das Thiopental, ein starkes Narkotikum, läuft durch Simons Arm­kanüle. Seine Augen werden schwer, und sein Körper fühlt sich an, als ob er gerade eine Flasche Bourbon getrunken hätte. Das starke Betäubungsmittel wirkt fast umgehend. In den Augenblicken, bevor er bewusstlos wird, denkt er an seine Mutter.
    Nach vier Minuten drückt der Techniker Knopf Nummer zwei, und eine starke Dosis Pancuroniumbromid wird in Simons Vene gepresst. Das Medikament hat die vollständige Lähmung der Muskeln zur Folge. Jetzt ist er nicht nur bewusstlos, sondern kann nicht einmal mehr atmen. Als Letztes verabreicht der Techniker eine tödliche Dosis einer Lösung eines Barbiturats und Kaliumchlorid, die sofort zum Herzstillstand führt. Die Prozedur hat nicht länger als knapp acht Minuten gedauert.
    Ich komme, Mutter. In ein paar Minuten werden wir wiedervereint sein.
    Dummer Junge. In ein paar Minuten wird der Herr über dir zu Gericht sitzen und dich dazu verurteilen, für alle Ewigkeit in den Feuern der Hölle zu schmoren.
    Simon Kwosokowskis letzter Gedanke auf Erden greift nach seinem Herzen und vernichtet es. Er erkennt, dass seine geliebte Mutter ihn betrogen und auf einen Pfad zu ewiger Verdammnis geführt hat. Was einst gerecht war, war nun eine Schande.
    Ein Arzt drückt ein Stethoskop auf seine Brust und nickt dem Gefängnisleiter kurz zu. Simon Kwosokowski wird um 12:10 Uhr vom Arzt für tot erklärt.
    Andrew McDonald, der Ehemann von Peggy McDonald, Simons viertem Opfer, sitzt unter den Zuschauern. Bevor er den Raum verlässt, schaut er sich Simon zum ersten und zum letzten Mal an. »Verrotte in der Hölle, du Scheißkerl.«

    Sami sitzt auf den Blättern der Lichtung und blickt auf ihre Uhr. Es ist Viertel nach zwölf. Vorausgesetzt, der Governor hat nicht noch die Hinrichtung aufgeschoben, atmet Simon Kwosokowski nicht länger irdische Luft. Sami hatte gehofft, unglaublich erleichtert zu sein, doch sie empfindet nicht ­anders als letzte Woche oder letztes Jahr. Sie hatte nicht erwartet, dass sich ihre Erfahrungen mit ihm in Luft auflösen würden, doch sie hatte damit gerechnet, ein wenig erleichtert zu sein.
    Enttäuscht, dass dieses bedeutsame Ereignis so wenig Wirkung zeigte, stand sie auf, wischte sich die Blätter ab und machte sich auf den Weg zu ihrem Wagen. Hier wechselte sie ihre Schuhe und blieb einen Augenblick ruhig mit geschlossenen Augen sitzen. Wie so oft, wenn sie eine wichtige Entscheidung getroffen hatte, hatte sie Angst vor der ei­genen

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