Keine große Affäre
normalerweise gern aß.
Sie bestellte aus jeder Kategorie das erste Gericht und kaufte in der Wein- und
Spirituosenhandlung nebenan schnell eine Flasche Wein. Das Gesicht der
Chinesin, die sie bediente, zeigte kein Anzeichen von Überraschung, als sie die
Bestellung durch die Durchreiche zur Küche schob.
Lia deckte in der Küche den Tisch und
nahm die Deckel von den Alubehältern: süßsaure Krabben, süßsaures Huhn,
süßsaures Schweinefleisch, süßsaure Ente und einfacher gekochter Reis mit
Lychees.
»Ich hoffe, du magst süßsauer«, sagte
Ginger, als sie niedergeschlagen auf die Behälter sah, die randvoll mit
grellfarbener Orangensauce waren. Wie hatte ihr das passieren können?
Es war überhaupt nicht schlimm, denn
sie hatten beide keinen Appetit.
»Dann wollen wir uns wenigstens
betrinken«, sagte Ginger und goß zwei Gläser Weißwein ein.
»Ich glaube, ich trinke lieber
nichts«, sagte Lia und nahm sich einen Löffel Reis. »Ich will einen klaren Kopf
behalten, falls es Anouska schlechter geht...«
»Ja, du hast recht«, sagte Ginger
finster und steckte den Korken wieder auf die Flasche.
Es sollte eine lange Nacht werden.
Um halb drei morgens sah Ginger auf
ihre Uhr und fragte sich, wie sie das überstehen sollte. Sie zuckte vor
Müdigkeit, aber das Sofa, das wirklich bequem war, wie sie Lia wahrheitsgemäß
versichert hatte, als sie sich gerade hingelegt hatte, schien kürzer geworden
zu sein und sich zu neigen, so daß sie sich vorkam, als würde sie einen Hügel
herunterrollen.
Als sie ungefähr fünf Minuten später
auf die Uhr schaute, sah sie, daß es sechs war. Sie war aufgewacht, weil Lia im
oberen Stockwerk durchs Zimmer ging. Auf Zehenspitzen schlich sie sich in die
Küche, an Guy vorbei, der die ganze Nacht friedlich in dem Reisebettchen
geschlafen hatte, in dem er normalerweise seinen Mittagsschlaf hielt.
Als Lia herunterkam, überreichte
Ginger ihr einen Becher mit dampfenden Tee.
»Ich habe Zucker hineingetan«, sagte
sie zu ihr. »Ich nehme normalerweise keinen, aber das sind außergewöhnliche
Umstände... Geht es ihr gut?«
»Ja, sie schläft friedlich, und ich
finde, sie sieht ein bißchen besser aus«, sagte Lia.
Beide stießen lange, erleichterte
Seufzer aus.
»Ich komme mir vor wie im Krieg. Wir
haben eine lange Nacht während der Bombardierung durch die Deutschen überlebt
oder sowas«, bemerkte Ginger.
Lia dachte, wie treffend dieser
Vergleich war. In der Nacht hatte sie sich ertappt, wie sie eine Art
Durchhaltegebet sprach. Wenn ich nur diese Nacht überstehe, wird es morgen
besser sein. Und irgendwie war es auch so. Die Sonne ging auf, und ein neuer
Tag begann.
Aus der Nähe waren die Kleider sogar
noch atemberaubender, wenn man die Qualität des Materials und die Details der
Verzierung sehen und die sinnliche Beschaffenheit des Stoffes fühlen konnte.
Als sie sich in London das Video seiner ersten Kollektion für den großen
Pariser Couturier angesehen hatte, hatte sie sich in ein bestimmtes Kleid
verliebt, weil es so einfach und schlicht fiel und schimmerte wie ein
Regenbogen. Und jetzt hing es vor ihr. Sie fragte sich, ob sie es wagen sollte,
darum zu bitten.
»Möchten Sie es anprobieren?« fragte
John Fabrizio Jones sie, der den Wunsch in ihren Augen las.
»Nein... Wirklich?« sagte Alison, die
wußte, daß sie das eigentlich nicht tun sollte. Es würde ihre journalistische
Objektivität beeinträchtigen. Aber schließlich war es nur ein Artikel über
Mode, dachte sie. Ramona hatte zu ihr gesagt, sie wollte einen Bericht, der den
englischen Einfluß in Paris zelebriert. Ihre aufrichtige Begeisterung für seine
Arbeit war einer der Gründe gewesen, weshalb der Designer ihr am
Ostersamstagmorgen ein exklusives Interview gewährt hatte.
Er deutete auf eine Art
mittelalterliches Zelt, das sich vom Boden des Salons erhob, der mit dicken
Teppichen belegt war. Sie nahm das Kleid auf dem wattierten Bügel und schlüpfte
ins Zelt. Darin standen ein Spiegel mit Goldrahmen, ein antiker Sessel mit
goldenen Schnörkeln und Brokat und ein Tischchen für ihre Aktentasche. Während
sie sich bis auf Slip und Strümpfe auszog, fragte sie sich aufgeregt, welche
reichen und berühmten Frauen sich an dieser Stelle schon entkleidet hatten. Sie
zog sich das Kleid über den Kopf. Es paßte wie angegossen.
Sie bewunderte sich ein paar Sekunden
lang selbst und wünschte, daß jemand, den sie kannte, es sehen könnte und den
Moment dadurch realer machen würde. Sie stellte sich
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