Keine große Affäre
einem
Hängerkleid.
»Warum ist die Frau eingeschlafen?«
fragte das kleine Mädchen gerade.
»Ich nehme an, sie war nach der ganzen
Tanzerei einfach müde«, sagte ihr Vater zu ihr und zwinkerte Ginger zu.
Es war ihr noch nie in den Sinn
gekommen, daß es in berühmten Ballettstücken oft unterschwellig um Sex und
gewaltsamen Tod ging und um Seelen, die nicht zur Ruhe kamen und Vergeltung
forderten. Sie schaute sich an der Bar um, betrachtete all die netten, kleinen
Mädchen in den Liberty-Kleidchen und den schwarzen Lackschühchen und stellte
sich vor, welchen Aufstand dieselben wohlmeinenden Eltern wahrscheinlich
machten, wenn ihre Kinder gern Melrose Place sahen.
»Es ist alles so spektakulär«, sagte
Lia und sah zu dem Kristallkronleuchter hinauf, während sie dort standen und
aus Pappbechern Eis aßen. »Nicht nur das Ballett, die ganze Atmosphäre. Genau so
habe ich mir das Bolschoitheater vorgestellt, aber keins in London.« Sie wandte
sich zu Ginger. »Das war ein tolles Erlebnis. Genau das, was ich brauchte.
Danke.«
Lia hatte Ginger in den letzten Wochen
angerufen, um sie um einen Gefallen zu bitten.
»Du hast doch gesagt, wenn du mir
irgendwie helfen könntest...«, hatte sie gesagt. »Also, da gibt es was. Wenn
das Angebot noch steht...«
»Natürlich«, hatte Ginger wie aus der
Pistole geschossen geantwortet.
»Ich muß mal ein paar Stunden raus.
Ich habe gerade eine Art neurotischen Anfall und denke, ich kann Anouska nicht
allein lassen, und das ist albern. Deshalb paßt Neil jetzt am Samstagnachmittag
auf sie auf, und ich gehe aus. Aber ich weiß genau, daß ich irgendeinen Vorwand
finden werde, zu Hause zu bleiben, wenn ich keine Verabredung habe. — Also,
hast du Lust, mit mir wegzugehen? Wir könnten vielleicht ins Kino gehen oder
einen Einkaufsbummel machen, oder wir müssen auch gar nichts unternehmen,
solange ich nur aus dem Haus bin...«
Ginger fand die Idee sehr vernünftig
und fühlte sich geschmeichelt, daß Lia sie um Hilfe bat. Als sie Pic anrief,
die sich sofort bereit erklärte, auf Guy aufzupassen, war ihr die Idee mit dem
Ballett gekommen.
»Ich rufe nur schnell Neil an«, sagte
Lia und nahm ein Handy aus der Handtasche.
»Das ist neu, oder? Gute Idee«, sagte
Ginger.
»Neil hat es mir gekauft. Er dachte,
ich würde mich besser fühlen, wenn ich das Gefühl habe, sie erreichen zu
können. In den ersten fünf Minuten da drin hatte ich Angst, es würde zu
klingeln anfangen, aber dann hat mich das Ballett so gefesselt, daß ich es
völlig vergessen habe«, sagte sie lächelnd, während sie sorgfältig ihre Nummer
eintippte.
»Ihm geht’s gut. Es geht ihnen beiden
gut. Er will sie jetzt im Buggy spazieren fahren«, informierte sie Ginger,
schob die Antenne wieder hinein und beendete den Anruf. »Es ist ein komisches
Gefühl, wenn man nichts ausrichten kann, nicht?« fügte sie hinzu. »So als wäre
man völlig überflüssig.«
»Na ja«, sagte Ginger. »Aber deshalb
wolltest du doch mal einen Nachmittag weg, oder?«
»Ja«, stimmte Lia zu. »Ja, ich denke
schon.«
Es war ein komisches Gefühl, noch bei
Tageslicht aus dem Glanz des Opernhauses auf die belebten Straßen von Covent
Garden herauszutreten.
»Es ist ein bißchen so, als würde man
nach der Siesta aus einem wunderschönen Traum erwachen«, sagte Lia.
»Und was machen wir jetzt?« fragte
Ginger, die fest damit rechnete, daß ihre Freundin nach Hause gehen wollte.
»Na ja, wenn wir im Ausland wären,
würde der Spaß nach der Siesta erst richtig losgehen«, sagte Lia, die wild
entschlossen schien, sich zu entspannen. »Hast du Lust, was trinken zu gehen?«
»Tolle Idee!« sagte Ginger.
Sie riefen beide zu Hause an. Pic
blieb sowieso über Nacht bei Ginger. Sie wollten am nächsten Tag zusammen aufs
Land fahren. Sie war begeistert, daß Ginger etwas trinken gehen wollte.
»Betrink dich ruhig mal«, sagte sie zu
ihr. »Das wird dir guttun!«
Neil war nicht da.
»Er muß noch spazieren sein«, sagte
Lia, und als sie das Telephon wieder abschaltete, bemerkte Ginger, daß sie
wieder nervös wurde. »Wenn irgendwas nicht stimmen würde, käme er doch klar
damit, oder?« fragte Lia sie besorgt.
»Natürlich«, bestätigte Ginger.
»Wahrscheinlich sogar besser als ich«,
sagte Lia. »Er ist sehr krisenfest. Er beherrscht lebensrettende Maßnahmen und
erste Hilfe...« Es war, als würde sie ein positives Mantra aufsagen, das sie
sich selbst beigebracht, aber noch nicht auswendig gelernt hatte. »Also,
Weitere Kostenlose Bücher