Keine Lady ohne Tadel
ihren monströsen Bauch zu zeigen. Dann stand zu befürchten, dass er Hals über Kopf das Weite suchte. Sie bedeutete Jeannie, sich zu entfernen.
Die Zofe war vollkommen durcheinander. »Soll ich nicht in einer Viertelstunde …?«
»Ich komme schon zurecht«, sagte Esme in einem Ton, der keine Widerrede duldete. »Gute Nacht.«
Jeannie wusste, wann einem Befehl ihrer Herrin Folge zu leisten war. Einen Augenblick stand sie noch verblüfft da, dann knickste sie und lief verwirrt die Hintertreppe hinunter. Sie war so durcheinander, dass sie Mrs Myrtle alles haarklein berichtete, obwohl Jeannie normalerweise darauf achtete, mit diesem Drachen von Haushälterin möglichst wenig zu sprechen.
Mrs Myrtle zog erstaunt die Augenbrauen hoch. In früheren Zeiten wäre dies ein untrügliches Zeichen dafür gewesen, dass die Herrin am Abend noch etwas vorhatte. Aber doch jetzt nicht mehr! »Schwangere Frauen haben nun mal Launen«, sagte sie zu Jeannie. »Sie sind so unvernünftig, wie der Tag lang ist. Meine Schwester hat eine ganze Woche nur Möhren gegessen. Wir haben schon geglaubt, sie würde orange werden. Keine Sorge, morgen früh ist Lady Rawlings wieder ganz die Alte.«
Wenn Jeannie nur gewusst hätte, dass Lady Godwins erfahrene Zofe Meddle ebenso fassungslos war! Ihre Herrin hatte ebenfalls ein Bad bestellt. Und dann hatte sie die vier Nachthemden, die sie mitgebracht hatte, nacheinander anprobiert und an jedem etwas auszusetzen gefunden. Eines war nicht gut gebügelt, ein anderes hatte eine schadhafte Naht … Offenbar hatte ihre Herrin heute Abend noch eine Verabredung. Doch mit wem?
»Das ist doch so klar wie Kloßbrühe«, sagte Mr Andrews und gestikulierte mit seiner Gabel herum. »Sie hat sich mit meinem Herrn, Lord Winnamore, verabredet. Weil er bei Lady Withers nicht landen konnte, will er nun ein jüngeres Feld beackern.« Andrews war ein vorlauter Londoner, der erst seit wenigen Tagen in Winnamores Diensten stand.
»Der Meinung bin ich nicht«, sagte Mr Slope gebieterisch. Als Butler gestattete er nicht den leisesten Klatsch über die Hausherrin, doch wenn es um die Schwächen anderer Personen von Stand ging, ließ er sich dazu herab, das übrige Personal mit seinem Wissen zu erleuchten. Und Slopes Wissen war beträchtlich, darin waren sich alle einig. Denn da er zehn Jahre lang Butler bei einem der am übelsten beleumdeten Ehepaare Londons gewesen war, hatte er jegliche Spielart von Verderbtheit erlebt, der der Adelsstand sich hingab.
Mrs Myrtle zog eine Augenbraue hoch. »Sie wollen doch nicht behaupten, dass es Mr Fairfax-Lacy ist, mein lieber Mr Slope? Und nehmen Sie doch bitte noch etwas von diesem Käse-Röstbrot mit Eingelegtem. Ich glaube, die Köchin hat sich diesmal selbst übertroffen.«
Mr Slope kaute sorgfältig und schluckte gewissenhaft hinunter, bevor er antwortete. Seine Manieren waren stets beispielgebend für die niedere Dienerschaft. »Ich glaube tatsächlich, dass es Mr Fairfax-Lacy ist.«
»Mein Herr in einen Ehebruch verwickelt? Niemals!« Mr Fairfax-Lacys Kammerdiener war ein naiver, ältlicher Mann. Mr Fairfax-Lacy hatte ihn vor dem drohenden Ruin gerettet, als er sich bereits im Armenhaus sah.
»Es wäre ein Akt der Freundlichkeit«, unterstützte Meddle die Ansicht des Butlers. »Was soll die arme Lady Godwin denn tun? Ihr Mann hat sie vor zehn Jahren verlassen. Wenn die Gerüchte stimmen – ich stand damals noch nicht in ihren Diensten –, dann hat er meine Herrin auf die Straße gesetzt. Sie musste sich eine Mietdroschke zum Haus ihrer Mutter nehmen. Er hat ihr nicht mal erlaubt, die eigene Kutsche zu benutzen! Wenn das nicht böse ist, was dann?«
»Oh, wenn es um einen Akt der Freundlichkeit geht, dann ist Mr Fairfax-Lacy der Richtige«, gab sein Kammerdiener zu verstehen und lehnte sich zufrieden zurück.
»Ich halte ja Lord Winnamore für die bessere Wahl«, beharrte Andrews. »Mein Herr ist in ganz London bekannt. Und außerdem wohlhabend.«
»Es ist allgemein bekannt, dass er Lady Withers treu ergeben ist«, entgegnete Mr Slope. »Sie haben ja selbst zugegeben, Mr Andrews, dass Sie in Ihrer Profession noch nicht sehr erfahren sind.« Ein paar der jüngeren Diener schauten Slope verständnislos an, deshalb erklärte er: »Mr Andrews arbeitet noch nicht lange als persönlicher Diener eines Gentleman.«
»Das stimmt«, sagte Andrews. »Bin aus dem Schneidergewerbe zu diesem Beruf gekommen«, fuhr er fort. »Hatte meine Lehrzeit beendet und konnte die
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