Keine Lady ohne Tadel
Vorstellung nicht ertragen, zwanzig Jahre lang nähen zu müssen. Also habe ich eine Stellung als Kammerdiener angenommen.«
»Wenn Sie etwas mehr Erfahrung gesammelt haben, werden Sie die Zeichen zu lesen verstehen. Wo befindet sich Mr Winnamore in diesem Augenblick, was meinen Sie?«
»Nun, im Bett, würde ich sagen«, antwortete Andrews. »Mit der Gräfin!«
»Sie haben ihn entkleidet?«
»In gewisser Weise.« Zu Andrews’ großer Erleichterung benötigte sein Herr derlei Dienste an seiner Person nicht. Denn Andrews glaubte nicht, dass er imstande wäre, einem anderen Mann die Unterwäsche auszuziehen, und wenn der Lohn auch noch so großzügig wäre.
»Das ist der Beweis«, sagte Mr Slope befriedigt.
»Der Beweis wofür?«
»Ein Gentleman entkleidet sich nicht, bevor er das Gemach einer Dame betritt. Er könnte ja auf dem Korridor gesehen werden. Er gibt lieber vor, ein Buch aus der Bibliothek holen zu müssen oder etwas Ähnliches.« Slope kicherte. »Ich habe in diesem Haus schon Nächte erlebt … kein einziges Buch hätte mehr in der Bibliothek stehen dürfen, wenn ihre Lügengeschichten der Wahrheit entsprochen hätten!«
Andrews musste Mr Slopes Worte hinnehmen. Hier sprach die Stimme der Erfahrung. Und Mr Winnamore hatte tatsächlich nicht den Eindruck gemacht, als plane er einen Ausflug, als Andrews ihn verlassen hatte. Vielmehr hatte er gemütlich im Bett gelesen, wie jeden Abend.
»Mr Fairfax-Lacy, wie? Der sitzt doch im Parlament, oder?«, erkundigte sich Andrews.
»Ganz recht«, nickte Mr Slope. »Und er ist ein hoch geschätzter Abgeordneter. Lady Godwin hätte keine bessere Wahl treffen können. Ich hätte übrigens nichts gegen eine zweite Portion von dieser Lammpastete einzuwenden, Mrs Myrtle, wenn Sie so nett wären. Und jetzt wollen wir über die Art und Weise sprechen, wie man während des Dinners den Speisesaal verlässt, denn heute Abend ist mir aufgefallen, dass unser junger Liddin sich durch die Tür gedrängelt hat, als würde er von einer Herde Elefanten verfolgt.«
13
Lady Godwin erhält eine wertvolle Lektion in fleischlichen Begierden
Helene war von einem heillosen Entsetzen erfasst. Wenn sie eine Möglichkeit gesehen hätte, Mr Fairfax-Lacy eine Nachricht zukommen zu lassen, ohne einen Skandal im Haus heraufzubeschwören, dann hätte sie es unverzüglich getan. In dieser Nachricht hätte gestanden, dass sie Scharlachfieber bekommen habe und unmöglich Gäste in ihrem Schlafzimmer empfangen könne.
Sie kam sich vor wie … wie eine Braut! Was für eine Ironie! Sie erinnerte sich noch genau, wie sie in einem Zimmer des Gasthofes auf Rees gewartet hatte. Sie waren noch nicht verheiratet gewesen, befanden sich noch auf dem Weg nach Gretna Green. Aber Rees hatte ganz richtig vermutet, dass Papa sich nicht die Mühe machen würde, sie zu verfolgen, und deshalb waren sie schon in der ersten Nacht in einem Gasthof abgestiegen.
Hätte sie doch nur den Mut besessen, am nächsten Morgen den Gasthof zu verlassen und unverheiratet in ihres Vaters Haus zurückzukehren! Mit den leuchtenden Augen der erwartungsvollen Jungfrau hatte sie in jenem Zimmer auf Rees gewartet. Denn sie war verliebt gewesen – verliebt! Wie töricht, wie armselig! Als Rees endlich aufgetaucht war, hatte sie sofort erkannt, dass er getrunken hatte. Er hatte in der Tür geschwankt, sich dann zusammengerissen. Und sie – Närrin, die sie war! – hatte gekichert und es auch noch romantisch gefunden. Was war denn an einem betrunkenen Mann romantisch?
Nichts.
Helene beruhigte sich wieder. Stephen Fairfax-Lacy würde ebenso wenig betrunken im Schlafgemach seiner Braut auftauchen wie vor dem Parlament im Nachthemd erscheinen. Sie begann sich zu fragen, ob er etwa zu ihr im Nachthemd kommen würde. Wenn sie einfach so tat, als käme er ebenso unerwartet wie Esme, die ihr noch einen nächtlichen Besuch abstatten wollte …
Es klopfte, und sie hätte vor Schreck fast geschrien. Doch dann schleppte sie sich zur Tür, öffnete und sagte mit belegter Stimme: »Kommen Sie herein.« Er war vollständig angezogen, was sie ein wenig einschüchternd fand. Denn sie hatte nichts weiter am Leib als ein Nachthemd aus Baumwolle. Helene gab sich einen Ruck: Sie hatte die Ehe mit Rees überlebt. Sie konnte alles überleben.
Er hingegen schien nichts seltsam zu finden. Schwungvoll präsentierte er ihr eine Flasche und zwei kleine Gläser.
»Wie umsichtig von Ihnen, Mr Fairfax-Lacy.«
Er stellte Flasche und Gläser auf den
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