Keine Vergebung: Kriminalroman (German Edition)
war die Routine.
Sie wusste doch ganz genau, wo er arbeitete, dass ihn dort niemand erschoss. Man wurde auf der Straße erschossen. Oder im Bahnhofsviertel. Oder bei häuslichen Auseinandersetzungen. Bei Banküberfällen oder Geiselnahmen.
Und bei Verkehrskontrollen.
Aber doch nicht in der Scheißleitstelle mitten in der Scheiß-polizeidirektion. Das wusste sie verdammt noch mal ganz genau.
Sie hatte doch eben deswegen keine Ruhe gegeben, bis er die Streife hatte sein lassen.
Es war heute total ruhig hier. Kaum Anrufe, nur der normale Funkverkehr. Gestern war es hier zugegangen wie in einem Katastrophenfilm. Heute war es wie an einem ganz normalen Tag. Sie hatten noch keine Bitte um Mithilfe der Bevölkerung rausgegeben. Damit warteten die Kripokollegen manchmal noch, weil wegen irgendetwas noch Unklarheit herrschte oder sie bestimmte Informationen noch zurückhalten wollten.
Die Ich-habe-da-was-gesehen-Tage waren immer furchtbar. Jeder Anruf konnte der Anruf sein. Jeder musste genau angehört werden. Wenn er nur einen Funken glaubwürdiger Information enthielt, musste er protokolliert werden. Eigentlich sollten die Leute gar nicht bei ihnen in der Leitstelle landen, sondern bei den im Aufruf angegebenen Nummern. Aber die ganzen Freaks, die eigentlich nichts zu sagen hatten, aber fanden, dass der Notruf für sie genau das Angemessene war, die wählten 110, um ihren Scheiß loszuwerden.
Aber eigentlich war Merten das alles gerade egal.
Außer dass Kim und Bernd tot waren, interessierte ihn nur seine Verabredung. Er konnte es nicht fassen. Vielleicht würde er diesmal alles ändern.
Die Frau war nicht Kim. Sie war auch ziemlich sicher nicht einfach. Aber sie war etwas Besonderes. Irgendwie … gefährlich.
O Gott, was dachte er da? Er war verlobt. Er wurde Vater. Vater.
Und Svenja war die Mutter. Das Kind wäre das nächste Lebewesen der Familie, das in Angst ersticken müsste.
Merten wurde übel. Nicht schon wieder, dachte er, das wird ja zum Hobby. Denk an was Schönes, an was Schönes.
Das Erste, was er sah, als er an was Schönes denken wollte, war Kim.
Fünf Minuten später übergab er sich ins Waschbecken.
Gerd Drossel sah aus dem Fenster. Er wirkte völlig übermüdet, was er vermutlich auch war. Grewe, Therese Svoboda und Staatsanwalt Blum standen bei ihm im kalten Flur der Rechtsmedizin.
Kim und Bernie waren abgeklebt worden, die Fingernägel geschnitten, Haarproben entnommen. Sie hatten ihre nackten, toten Körper fotografiert. Nahaufnahmen von den Ein- und Ausschüssen. Weitere Verletzungen gab es eigentlich nicht. Die Täter hatten die beiden erschossen, und dann waren Bernie und Kim einfach auf die Straße gesackt. Ende. Kim hatte noch fast fünfzig Minuten gelebt, aber nur zwei oder drei davon noch mitbekommen.
Während Drossel und ein Kollege ihre Arbeit machten, hatte Dr. Lyske seine Diagnose des äußeren Anscheins auf Band gesprochen. Dann hatte er die Leichen geöffnet.
Es hatte ihnen das Herz zerrissen.
Keiner war zum ersten Mal bei einer Sektion. Sie hatten hier schon geschundene Frauenkörper gesehen, tote Kinder, verweste Rentner, die nach einem demütig geführten Leben noch nicht mal von irgendjemand vermisst worden waren.
Es war immer schwer, das zu sehen. Aber bei Kim und Bernie war es, als sähen sie ihnen noch mal beim Sterben zu. Und fühlten, wie einsam sie gestorben waren auf der nassen Straße.
Jeder kannte ihre Stimmen, ihren Gang. Sie hatten hundertmal ihr Lachen gehört, vor allem das von Kim. Therese hatte Kim mal für ein paar Wochen bei sich wohnen lassen, als diese Ärger mit einem Vermieter hatte. Grewe hatte mit Bernie über dessen Eheprobleme gesprochen, sie waren manchmal zusammen joggen gewesen. Hatten unzählige Dienststunden miteinander verbracht.
Und dann zu sehen, wie Dr. Lyske und sein Helfer ihre Brustkörbe aufstemmten. Wie die Kreissäge Bernies Schädel aufschnitt, um die verdammte Kugel zu finden.
Sie drehten gemeinsam Kim auf die Seite, damit Dr. Lyske und Gerd Drossel sich den Schusskanal durch ihren Hals ansehen konnten. Therese hatte nicht aufhören können, Kims Arm zu streicheln, und dabei geweint.
Sie hatten weitergemacht, weil es ihre Aufgabe war. Weil sie wissen wollten.
Warum? Wer? Wie? Irgendetwas. Alles.
»Nichts.« Gerd Drossel schloss die Augen.
Sie schwiegen.
»Du hast die Kaliber bestimmt.« Grewe legte seine Hand auf Gerd Drossels Schulter. Drossels Mundwinkel zuckten.
»Du hast belegt, dass es zwei Waffen waren. Zwei
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