Keine Vergebung: Kriminalroman (German Edition)
klingt für mich nach einem Menschen, der andere sehr genau beobachtet. Und auf Dinge aufmerksam wird, die vielen für gewöhnlich entgehen.«
Sie merkte, dass sie rot wurde. Trank einen Schluck Wasser. Sah den Polizisten an.
»Herr … Grewe?«
Er nickte.
»Herr Grewe, ich habe mich nicht an die Schüsse erinnert. Das heißt doch, dass meine Wahrnehmung irgendwie, wie sagt man? Getrübt war, das ist es. Ich hatte eine getrübte Wahrnehmung, vielleicht sogar völlig falsch. Ich dachte zuerst, die Schüsse wären gefallen, als ich bewusstlos war.«
Der Polizist Grewe sah sie an. Neutral. Aber nicht ohne Wärme. Sie musste schlucken, gegen aufsteigende Tränen kämpfen.
»Trinken Sie ganz langsam ein paar Schluck Wasser, Frau Bender. Sie machen das sehr gut. Ganz ruhig bleiben.«
Sie atmete tief ein. Noch mal. Dann trank sie langsam drei Schlucke Wasser. Stellte das Glas ab.
»Aber der Mann hat geschossen, als er direkt vor mir stand und mit mir redete. Das haben alle gesehen.«
Grewe nickte.
»Richtig. Dafür hat niemand außer Ihnen eine taugliche Beschreibung der Täter abgegeben. Die Angaben zur Größe und Figur gehen da teilweise so auseinander, dass man glauben könnte, es wären zehn verschiedene Menschen gewesen.«
Er lächelte und sprach sehr freundlich.
»Frau Bender. Sie alle waren heute in einer außergewöhnlich belastenden und beängstigenden Situation. Sie alle hatten Todesangst. Das beeinflusst die Wahrnehmung massiv. Jeder Mensch reagiert anders auf so etwas, aber eines ist allen gleich: Körper und Geist reduzieren ihre Arbeit auf das absolut Notwendige. Das ganze System wird auf Flucht und Kampf eingestellt. Jede Wahrnehmung wird diesem Verlangen untergeordnet, dagegen können Sie nichts tun. Und was jeder im Einzelnen für überlebenswichtig hält, hängt von so vielen, auch individuellen Faktoren ab. Da gibt es einfach kein allgemeingültiges Richtig oder Falsch. Viele der anderen Geiseln haben beschlossen, dass es besser ist, nicht zu viel über die Täter zu wissen. Oder haben einfach keine gute Wahrnehmung von Personen. Ihr System, Frau Bender, hat entschieden, die Schüsse zu ignorieren, vermutlich weil die Sie am meisten geängstigt haben und Angst das war, was Sie am stärksten bekämpft haben, um die Situation meistern zu können. Ihr junger Kollege, Herr … äh …«
Isabell sah Grewe fragend an.
»Der das Geld verpackt hat.«
»Nico. Nico Förster.«
»Herr Förster, danke. Ja, der sagte, dass Sie sehr, sehr ruhig geblieben seien, als Einzige. Er fand das stark von Ihnen. Sie hätten nicht ein einziges Mal geschrien.«
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihr war ein bisschen übel.
»Frau Bender. Die ersten Stunden nach so einer Sache sind auch für uns sehr hektisch. Übervoll mit Aufgaben und Maßnahmen. Wir wollen keine Fehler machen, denn diese ersten Stunden können immer absolut entscheidend dafür sein, wie erfolgreich wir arbeiten werden. Das ist für Sie natürlich nicht einfach. Nach allem, was Sie heute durchgemacht haben. Aber ich kann sagen, dass eine Aussage wie die Ihre für uns sehr, sehr wertvoll ist. Wenn sie zutrifft. Wenn wir Ihrer Erinnerung vollständig trauen können, dann kann eine solche Aussage uns bei der Identifizierung der Täter sehr helfen. Deswegen hinterfragen wir sie so genau. Weil sie so gut ist. Verstehen Sie das?«
Isabell sah den Polizisten Grewe an.
»Sind Sie Psychologe?«
Er lächelte. Schüttelte den Kopf.
»Ich bin Polizist. Einfach nur Polizist. Ich war schon ein paarmal im Leben in ähnlich schwierigen Situationen wie Sie heute Morgen. Ich kann … einfach gut nachfühlen, wie das ist. Ich habe nicht immer optimal reagiert in solchen Lagen. Man lernt mit der Zeit.«
Etwas in seinen Augen berührte Isabell tief. Da war ein Schmerz. Erinnerungen. Er sagte die Wahrheit. Er meinte es genau so, wie er es sagte. Sie entspannte sich.
»Möchten Sie mir die beiden Täter noch mal beschreiben? Aus Ihrer Erinnerung? Ich schreibe nichts mit. Sie erzählen einfach, und ich höre zu.«
»Ich habe dem Protokoll nichts hinzuzufügen. Und nichts zu streichen. Das ist das, woran ich mich erinnere. So habe ich die beiden wahrgenommen.«
Grewe sah Isabell lange an. Sie hielt den Blick.
Dann nickte er.
»Ich verstehe. Sie können sich denken, dass gerade Ihre Aussagen zu dem Kleineren der beiden für uns interessant sind?«
Isabell strich sich die Haare hinters Ohr, blies ein paar Strähnen aus der Stirn.
»Ja. Ich bin mir da zu
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