Keine Zeit für Vampire
herum, raufte sich das Haar und riss vor Angst die Augen so weit auf, dass er sie selbst im fahlen Mondlicht noch sehen konnte.
Angesichts ihrer Furcht regte sich etwas in ihm. Er hatte sie eigentlich nicht als eine Frau eingeschätzt, die schnell den Kopf verlor. Doch nun benahm sie sich tatsächlich, als würde sie den Verstand verlieren – genau, wie sie schon die ganze Zeit über behauptete.
»Schluss mit diesem Radau«, forderte er streng und schritt auf Io zu. Die Pferde folgten ihm. Da blieb er stehen und drehte sich auf dem Absatz um. »Hierbleiben«, befahl er den Tieren und wies auf den Boden.
Demeter nestelte mit der Lippe an seinem Finger und wieherte leise. Thor biss der Stute in die Seite und erhielt dafür zur Strafe einen Stoß mit dem Hinterhuf vor die Brust.
»Hierbleiben«, wiederholte er und ging zu Io. Wie nicht anders zu erwarten, folgten ihm die Pferde auf dem Fuß. Noch einmal seufzte er gequält. Niemand hielt sich an seine Anordnungen – nicht einmal seine Pferde. »Weib, was ist jetzt schon wieder los?«
»Die Stadt – das ist los!«, heulte Io, und ihre Unterlippe zitterte. »Etwas stimmt damit nicht. Sie ist nicht so, wie sie sein sollte. Wenn ihr einfach nur, wie ich die ganze Zeit dachte, eine spinnerte Reenactmenttruppe wäret, dann könntet ihr doch nicht einfach so eine ganze Stadt nachbauen, oder? Ich meine, ich weiß schon, dass sie noch genau da ist, wo sie sein sollte, aber etwas stimmt mit ihr ganz und gar nicht!«
Nikola stemmte die Hände in die Hüften und begutachtete die Stadt. »Meines Erachtens ist alles in bester Ordnung. Es ist keine große Stadt, aber es gibt immerhin drei Wirtshäuser und vier Brunnen. Ich kenne keine andere Stadt dieser Größe, die über derartige Annehmlichkeiten verfügt.«
Io schlang schaudernd die Arme um den Oberkörper. »Es ist … es ist … oh mein Gott, es ist also wahr, oder? Wir schreiben tatsächlich das Jahr 1703. Du tust nicht nur so, als wärst du ein österreichischer Herzog.«
»Baron«, verbesserte er.
»Ich habe also nicht den Verstand verloren. Na ja, natürlich abgesehen von den Stimmen, die zu mir sprechen, aber möglicherweise hat das auch etwas mit diesem wirbelnden Ding zu tun, denn das hat mich hierher befördert, Nikola.« Io packte ihn am Kragen und schüttelte ihn derart inbrünstig, dass er um seinen Mantel fürchtete. »Das wirbelnde Ding in diesem unheimlichen Wald – das hat mich in der Zeit zurückversetzt. Ausgerechnet mich! Die perfekte Durchschnittsfrau! Was um alles in der Welt soll ich jetzt tun ?«
»Was würdest du denn am liebsten tun?«, fragte er.
»Zurück nach Hause gehen!«, erwiderte sie rasch. »Damit meine ich, zurück in meine eigene Zeit. Nicht zurück nach Hause , denn dort erwartet mich nur Arbeitslosigkeit und noch eine ganze Menge anderer Mist, den ich jetzt wirklich nicht gebrauchen kann. Aber trotzdem würde ich gern ins Jahr 2012 zurückkehren.«
Nikola schwieg einige Sekunden und dachte über ihre Äußerung nach. Noch nie zuvor hatte er jemanden getroffen, der von sich behauptet hatte, dass er in einer anderen Zeit lebte, und schon gar nicht, in einer, die mehr als dreihundert Jahre in der Zukunft lag. Doch trotz ihres Gefasels darüber, den Verstand zu verlieren, und der Misshandlung seines Mantels kam sie ihm nicht verrückt vor.
Ganz im Gegenteil, sie reagierte genauso, wie auch er es getan hätte, wenn er in ihrer Haut gesteckt hätte. Er verdrängte die Erinnerung an ihre zarte, blasse Haut jedoch gleich wieder und erkundigte sich stattdessen: »Wo befindet sich diese Erscheinung, die du für deinen unfreiwilligen Aufenthalt hier verantwortlich machst?«
Sie setzte zu einer Antwort an, hielt jedoch inne, gab seinen Mantel frei und sah ihn eigentümlich an. »Moment mal … du hältst mich nicht für durchgeknallt.«
Er sah sie für einen Augenblick eindringlich an und zückte dann sein Notizbuch. »Durchgeknallt.«
Io lächelte. »Das ist ein flapsiger Ausdruck für geistesgestört. Nikola, warum hältst du mich nicht für verrückt? Weshalb hältst du eine Zeitreise nicht für unmöglich?«
Er zuckte mit den Schultern. »Weil ich ausreichend Beweise dafür gesehen habe, dass das, was unmöglich scheint, oftmals eben doch möglich ist.«
»Weil dein Sohn sich für einen Vampir hält?«
Nikola ließ den Blick über den Platz schweifen, fasste Io am Arm und führte sie zur Straße, die den Berg wieder hinaufführte. Die Pferde zog er dabei hinter sich her. »Wie
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