Keine Zeit für Vampire
natürlicherweise ein Sexualleben hatte, wusste ich nicht, ob die typische Frau des achtzehnten Jahrhunderts derlei Dinge gern diskutierte, insbesondere, wenn es einen Elternteil betraf. Also lächelte ich einfach nur und dankte ihr höflich, als sie mir ein spitzenbesetztes und mit Rüschen verziertes Nachthemd reichte.
»Stimmt es, dass Ihr mit Papas Kutschpferd zusammengestoßen seid?«, erkundigte sich Imogen, fuhrwerkte nebenher im Zimmer herum und sammelte Nikolas Hemd auf, das ich beim Umziehen auf den Boden geworfen hatte.
»Zumindest behauptet er das. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Imogen …« Ich biss mir auf die Lippe, denn ich wusste nicht, wie ich ihr am klügsten die Frage stellen sollte, die mir am meisten auf der Seele lag. »Dein Vater, also – er hat doch zwei Brüder, oder?«
»Warum möchtet Ihr das wissen?«, entgegnete Imogen und musterte mich skeptisch.
Ich gab es auf, die unzähligen kleinen Bändchen vorne an meinem Nachthemd zuzuknoten. »Das klingt jetzt wahrscheinlich ziemlich verrückt, und ich könnte dir nicht verdenken, wenn du mich deswegen für wahnsinnig halten würdest, aber du solltest wissen, dass ich aus der Zukunft komme. Aus deiner Zukunft.«
Sie fixierte mich einige Sekunden, zog dann einen breiten Sessel ohne Armlehnen heran und setzte sich. »Was hat das mit meiner Familie zu tun?«
»Du wunderst dich nicht, dass ich aus der Zukunft komme?«, fragte ich und konnte nicht fassen, mit welcher Nonchalance sie diese bizarre Behauptung hinnahm. »Ich an deiner Stelle würde sofort die nächste Klapsmühle verständigen.«
Imogen betrachtete mich nachdenklich. »Eine Klapsmühle ist mir nicht geläufig. Und was Eure Behauptung angeht …« Sie zuckte kaum merklich mit den Schultern. »Weder glaube ich sie, noch möchte ich sie als Lüge abtun. Ich verlange lediglich zu wissen, inwiefern es mit der Familie meines Vaters zu tun hat.«
»Insofern, als dass wir uns schon einmal begegnet sind. Beziehungsweise begegnen werden. In meiner Zeit habe ich dich vor zwei Tagen kennengelernt, und unter anderem hast du mir erzählt, dass dein Vater von seinen Brüdern ermordet wurde. Ich möchte nur wissen, ob das stimmt.«
»Da mein Vater noch lebt, kann es wohl nicht stimmen«, sagte sie leichthin – mit einem spöttischen Unterton, auf den ich hätte verzichten können –, doch ihre Miene war todernst.
»Ich meinte, ob er tatsächlich zwei Brüder hat.«
»Nein«, antwortete sie.
Da saß ich nun auf der Bettkante und fragte mich, warum die Imogen der Zukunft mich allem Anschein nach belogen hatte.
»Er hat zwei Halbbrüder. Sie sind jünger als er und stammen aus der zweiten Ehe meiner Großmutter.«
Trotz der Wärme, die das große Feuer im Kamin ausstrahlte, überlief mich ein eiskalter Schauer. Zitternd krallte ich die Hand in eine der dicken Daunendecken. »Halbbrüder. Richtig, du hast von Halbbrüdern gesprochen. Das sind die Burschen.«
Sie schüttelte nur den Kopf. »Sie leben nicht hier, sondern in einer kleinen Stadt nördlich von hier. Sie und Papa haben sich nie gut verstanden. Darum hat er ihnen ein kleines Grundstück aus seinem Besitz überlassen, wo sie nach eigenem Gutdünken schalten und walten können und sich Papa nicht mehr verpflichtet fühlen müssen.«
Ich zerbrach mir den Kopf, was genau Imogen über den Tod ihres Vaters erzählt hatte. Hatte sie nicht etwas davon erwähnt, dass die Brüder eifersüchtig auf ihn gewesen wären? »Wo genau leben sie?«
Sie nannte den Namen des Ortes, doch er kam mir nicht bekannt vor. »Wir sehen sie nur zweimal im Jahr: an Papas Geburtstag und am Todestag meiner Großmutter. Zu beiden Anlässen ist es allerdings noch eine Weile hin. Warum sollten meine Onkel meinen Vater umbringen wollen?«
Ich wusste nicht recht, was ich darauf antworten sollte. Ich wollte ihr nicht noch mehr Sorgen bereiten und ihr gestehen, dass die beiden neidisch auf Nikolas Status als Erstgeborener waren und darauf, dass er die Burg und den Adelstitel geerbt hatte, doch andererseits hatte sie auch ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren. Vorausgesetzt, dass es die Wahrheit war. »Leider kenne ich nicht alle Einzelheiten. Als wir uns trafen – im Jahr 2012 – hast du nur erwähnt, dass sich der Todestag deines Vaters jähren würde und dass er im Wald von seinen Halbbrüdern getötet worden sei. Ich glaube, du hast gesagt, dass die beiden eifersüchtig auf ihn waren, aber genau weiß ich es nicht mehr. Seitdem ist so viel
Weitere Kostenlose Bücher