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Keine zweite Chance

Keine zweite Chance

Titel: Keine zweite Chance Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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sich gut anfühlte. Etwas regte sich in mir, ein wohl bekanntes Gefühl, das tief in mir geschlummert hatte, machte sich bemerkbar. Ich hielt den Blick auf dieses wunderschöne, vollkommene Gesicht gerichtet. Ich schob eine Haarsträhne zurück. Ihr lief eine Träne über die Wange. Sie legte die Hand auf meinen Unterarm. Ich spürte, wie sich von dort eine wohlige Wärme ausbreitete.

    Halb wollte ich – ja, ich weiß, wie das klingt – die ganze Suche abblasen. Die angeblichen Entführer waren nur Trittbrettfahrer gewesen. Meine Tochter war verschwunden. Meine Frau war tot. Irgendjemand wollte mich umbringen. Es war an der Zeit, noch einmal von vorne anzufangen, mir eine neue Chance zu geben, die Möglichkeit, es dieses Mal besser zu machen. Ich wollte umkehren und in die Gegenrichtung fahren. Ich wollte einfach fahren  – immer weiterfahren – und sie nie nach ihrem toten Mann und den Fotos auf der CD-ROM fragen. Ich würde das alles vergessen. Das kriegte ich bestimmt hin. Ich hatte genug chirurgische Eingriffe durchgeführt, bei denen ich Oberflächen verändert hatte, die Menschen die Möglichkeit eröffnet hatten, einen Neuanfang zu wagen, die nicht nur das Äußere verschönert hatten, sondern gleichzeitig auch das, was man nicht sehen konnte. So könnte man das angehen. Ein einfaches Lifting. Ich würde den ersten Einschnitt am Tag vor der verhängnisvollen College-Party machen, die vierzehn Jahre alten Falten straff über die Zeit ziehen und die Naht im Hier und Jetzt wieder vernähen. Die beiden Augenblicke einfach zusammenfügen. Die vierzehn Jahre verschwinden lassen, als wären sie nie geschehen.
    Rachel öffnete die Augen und ich sah, dass sie an etwas sehr Ähnliches gedacht hatte, dass auch sie hoffte, ich würde das Ganze auf sich beruhen lassen und umdrehen. Aber das ging natürlich nicht. Wir blinzelten kurz. Wir erreichten das Ende der Baustelle. Sie nahm ihre Hand von meinem Arm. Ich riskierte noch einen kurzen Blick auf sie. Nein, wir waren keine einundzwanzig mehr, doch das machte nichts. Das sah ich jetzt. Ich liebte sie immer noch. Ob das irrational, falsch, dumm oder naiv war, kümmerte mich nicht. Ich liebte sie immer noch. Vielleicht hatte ich mir im Laufe der Jahre etwas anderes eingeredet, aber ich hatte nie aufgehört, sie zu lieben. Sie war immer noch so verdammt schön, so verdammt perfekt, und wenn ich daran dachte,
wie nahe sie dem Tode gewesen war, wie diese riesigen Hände ihr die Luft zum Atmen genommen hatten, begannen diese nagenden Zweifel in mir an Kraft zu verlieren. Sie würden nie ganz verschwinden. Nicht, bevor ich die Wahrheit wusste. Aber egal, was die Antwort war, sie würden mich nicht verzehren.
    »Rachel?«
    Aber plötzlich richtete sie sich auf und starrte auf den Palm Pilot.
    »Was ist?«, fragte ich.
    »Sie haben angehalten«, sagte Rachel. »Sie sind nur noch drei Kilometer vor uns.«

32
    Steven Bacard legte den Telefonhörer auf die Gabel.
    Man schlittert langsam ins Verbrechen hinein, dachte er. Man überschreitet die Linie nur einmal ganz kurz und tritt sofort wieder zurück. Man fühlt sich sicher. Man verändert sich ein wenig, und, wie man glaubt, zum Besseren. Die Linie ist noch da. Sie ist noch intakt. Na ja, sie mag an einer Stelle vielleicht etwas verwischt sein, aber man kann sie noch klar erkennen. Und wenn man sie das nächste Mal überschreitet, verwischt sie womöglich ein kleines bisschen mehr. Aber man weiß doch Bescheid. Ganz egal, was mit der Linie passiert, man weiß ja schließlich, wo sie ist.
    Oder etwa nicht?
    Über Steven Bacards komplett eingerichteter Bar in seinem Büro hing ein Spiegel. Sein Innenarchitekt hatte erklärt, alle Menschen mit Prestige hätten einen Ort, an dem sie auf den Erfolg anstoßen konnten. Also hatte er sich eine Bar einbauen lassen. Er trank nicht einmal. Steven Bacard starrte sein Spiegelbild an und dachte nicht zum ersten Mal: Durchschnitt. Er war immer
Durchschnitt gewesen. Seine Zensuren, die Ergebnisse des SAT- und LSAT-Tests, sein Juraabschluss, die Anwaltsprüfung (die er erst beim dritten Versuch bestanden hatte). Wenn das Leben wie ein Spiel wäre, bei dem Kinder Mannschaften wählen, wäre er irgendwo in der Mitte genommen worden, nach den guten Sportlern und vor den wirklich schlechten – in der Gruppe der Unauffälligen, die keinen Eindruck hinterlassen.
    Bacard war Anwalt geworden, weil er gedacht hatte, das Dasein als Jurist würde ihm ein gewisses Ansehen verleihen. Daraus war nichts

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