Keine zweite Chance
herumgealbert und war die Treppe hinuntergefallen. Es hatte enorm wehgetan, doch sie mussten die Folge abdrehen. Also hatte der Studioarzt ihr eine Spritze mit Gott-weiß-was verpasst, und zwei Lohnschreiber hatten die Verletzung ins Drehbuch eingearbeitet. Sie war halb bewusstlos durch die Folge gewankt.
Aber bitte keine Geigen.
Lydia hatte Danny Partridges Buch gelesen. Sie hatte sich Willis’ Gejammer in Noch Fragen, Arnold? angehört. Sie wusste alles über die verzweifelte Lage der Kinderstars, Missbrauch, verschwundenes
Geld und lange Arbeitstage. Sie hatte sämtliche Talkshows zu diesem Thema gesehen, sich alle Beschwerden angehört und die Krokodilstränen ihrer Kollegen und Kolleginnen mitbekommen – und die ganze Verlogenheit kotzte sie nur noch an.
Hier ist die Wahrheit über das Dilemma der Kinderstars. Nein, es geht nicht um Missbrauch, obwohl Lydia, als sie jung und dumm genug war, zu glauben, ein Therapeut könnte ihr helfen, dieser ihr immer wieder erzählte, sie würde »verdrängen«, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach von einem der Produzenten der Serie belästigt worden sei. Und auch die Versäumnisse der Eltern sind nicht für das verantwortlich, was aus Kinderstars wird – ebenso wenig wie umgekehrt der Druck, den die Eltern machen. Es liegt nicht am Mangel an Freunden, den langen Arbeitszeiten, den unterentwickelten Sozialisationsfähigkeiten, dem Chaos mit Lehrern und Ausbildern im Studio. Nein, das ist alles nicht das Entscheidende.
Es liegt ganz einfach daran, dass man nicht mehr im Rampenlicht steht.
Punktum. Alles andere sind Ausflüchte, weil niemand zugeben will, dass er so oberflächlich ist. Lydia hatte mit sechs angefangen, für die Serie zu arbeiten. Sie hatte fast keine Erinnerungen an die Zeit davor. Folglich erinnerte sie sich nur noch daran, dass sie ein Star war. Ein Star ist etwas Besonderes. Ein Star ist so etwas wie ein König. Ein Star ist das, was auf Erden einem Gott am nächsten kommt. Und Lydia hatte nie etwas anderes erlebt. Wir versuchen, unseren Kindern zu vermitteln, dass sie etwas Besonderes sind, aber für Lydia hatte es nie etwas anderes gegeben. Alle fanden sie hinreißend. Alle hielten sie für die perfekte Tochter, liebevoll und freundlich und genau im richtigen Maße frech. Wenn die Leute sie ansahen, lag eine eigenartige Sehnsucht in ihrem Blick. Sie wollten in ihrer Nähe sein, alles über sie erfahren, Zeit mit ihr verbringen und ihren Rocksaum berühren.
Und dann, eines Tages, puff – alles vorbei.
Ruhm macht noch schneller süchtig als Crack. Erwachsene, deren Ruhm vergeht – One-Hit-Wonders zum Beispiel –, geraten oft in einen Strudel von Depressionen, obwohl sie vorgeben, es berühre sie nicht. Sie wollen sich die Wahrheit nicht eingestehen. Ihr ganzes Leben ist eine Lüge, ein verzweifelter Kampf um eine weitere Dosis der mächtigsten Droge der Welt. Ruhm.
Diese Erwachsenen hatten gerade einmal kurz von dem süßen Nektar genippt, bevor er ihnen wieder entrissen wurde. Für einen Kinderstar jedoch war er die Muttermilch. Sie kennen nichts anderes. Sie können nicht verstehen, dass er vergänglich ist, dass er nicht ewig bestehen bleibt. So etwas kann man einem Kind nicht erklären. Man kann es nicht auf das Unvermeidliche vorbereiten. Lydia hatte nie etwas anderes als Vergötterung erlebt. Und dann ging der Scheinwerfer aus, praktisch über Nacht. Zum ersten Mal in ihrem Leben stand sie allein in der Dunkelheit.
Und das haut einen um.
Lydia wusste das jetzt. Heshy hatte ihr geholfen. Er hatte sie ein für alle Mal vom Stoff weggeholt. Sie hatte sich selbst Verletzungen zugefügt, herumgevögelt, hatte mehr Betäubungsmittel geschluckt und geschnupft, als man sich vorstellen konnte. Das hatte sie nicht getan, um vor irgendetwas zu fliehen. Für sie war es eine Möglichkeit, sich zu schlagen, irgendetwas oder irgendwen zu zerstören. Ihr Fehler war, wie sie nach einem wirklich grässlichen und gewalttätigen Vorfall in der Rehabilitation erkannt hatte, dass sie sich selbst zerstörte. Ruhm erhebt einen. Er macht die anderen kleiner. Warum um alles in der Welt tat sie dann derjenigen weh, die ganz oben stehen sollte? Warum tat sie nicht der erbärmlichen breiten Masse weh, denjenigen, die sie verehrt hatten, die ihr eine so berauschende Macht verliehen und die sich dann gegen sie gewandt hatten? Warum zerstörte sie
das überlegene Wesen, das doch damals all diese Lobpreisungen verdient hatte?
»Lydia?«
»Hmm?«
»Ich
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