Keine zweite Chance
Sie verbrachte zu viel Zeit mit dem Lesen der Fernsehzeitschrift.
Und nicht zu vergessen die Krönung des Ganzen: Sie hatte sich in einer selbstzerstörerischen Beziehung verfangen – und war auf die schlimmstmögliche Art wieder herausgekommen.
Der Wagen fuhr eine Kurve und kämpfte sich steil bergauf, so dass Rachel nach hinten rollte. Kurz darauf hielten sie an. Rachel hob den Kopf. Die grausamen Grübeleien verflogen.
Es ging los.
Vom alten Wachturm des Forts gut achtzig Meter über dem Hudson River hatte Heshy einen beeindruckenden Blick auf die Jersey Palisades, die sich von der Tappan Zee Bridge rechts bis zur Washington Bridge zu seiner Linken erstreckten. Er nahm sich
wirklich Zeit, die Aussicht zu genießen, ehe er sich an seine Aufgabe machte.
Wie aufs Stichwort bog Seidman auf den Henry Hudson Parkway. Niemand folgte ihm. Heshy behielt die Straße im Auge. Kein Auto wurde langsamer. Keins beschleunigte. Niemand versuchte den Eindruck zu erwecken, er würde ihm nicht folgen.
Heshy drehte sich um, hatte den Wagen für einen Moment nicht im Blick, fand ihn dann jedoch wieder. Seidman fuhr. Sonst war niemand zu sehen. Das bedeutete nicht viel – es konnte jemand auf dem Rücksitz liegen –, aber es war schon mal ein Anfang.
Seidman parkte den Wagen. Er stellte den Motor ab und öffnete die Tür. Heshy hob das Mikrofon zum Mund.
»Pavel, bist du bereit?«
»Ja.«
»Er ist allein«, sagte er, jetzt für Lydia. »Weitermachen.«
»Parken Sie beim Café. Steigen Sie aus und gehen Sie bis zum Circle.«
Beim Circle handelte es sich, wie ich wusste, um den Margaret Corbin Circle. Als ich auf die Lichtung kam, sah ich trotz der Dunkelheit zuerst die grellen Farben des Kinderspielplatzes an der 190th Street in der Nähe der Fort Washington Avenue. Die Farben stachen selbst jetzt ins Auge. Mir hatte der Spielplatz immer gefallen, aber heute Nacht war es, als wollten mich die Gelb- und Blautöne verhöhnen. Ich betrachtete mich als Stadtmenschen.
Als ich hier in der Nähe gewohnt hatte, war ich davon ausgegangen, in dieser Gegend wohnen zu bleiben – ich war viel zu weltläufig für die nichts sagenden Vororte –, und das hieß natürlich, dass ich später mit meinen Kindern in ebendiesen Park
kommen würde. Ich nahm es als ein Omen, wusste jedoch nicht, wofür.
Das Handy quakte: »Links ist eine U-Bahn-Station.«
»Okay.«
»Gehen Sie die Treppe runter zum Fahrstuhl.«
Ich hätte damit rechnen müssen. Er würde mich in den Fahrstuhl und dann in die U-Bahn schicken. Für Rachel würde es schwierig, wenn nicht gar unmöglich werden, mir zu folgen.
»Sind Sie auf der Treppe?«
»Ja.«
»Unten rechts ist ein Tor.«
Ich wusste, wo das Tor war. Es führte zu einem kleineren Park und war nur am Wochenende geöffnet. Man hatte den Park als eine Art kleines Picknick-Gelände abgetrennt. Dort standen mehrere Tischtennisplatten. Man musste allerdings eigene Schläger und ein eigenes Netz mitbringen, wenn man spielen wollte. Außerdem gab es Tische und Bänke. Das Areal wurde gern für Kindergeburtstage benutzt.
Das schmiedeeiserne Tor war, wie ich mich erinnerte, an Wochentagen immer abgeschlossen.
»Ich bin da«, sagte ich.
»Passen Sie auf, dass Sie niemand sieht. Stoßen Sie das Tor auf. Schlüpfen Sie rein und schließen Sie es hinter sich.«
Ich sah hinein. Der Park war pechschwarz. In der Ferne waren ein paar Straßenlaternen zu erkennen, die die Umgebung kaum in ein dunkles Grau tauchten. Die Geldtasche hing schwer an meiner Schulter. Ich rückte den Riemen zurecht. Ich sah mich um. Niemand. Ich sah nach links. Die U-Bahn-Fahrstühle rührten sich nicht. Ich legte die Hand an das Tor. Das Vorhängeschloss war aufgebrochen. Noch einmal sah ich mich kurz um, weil die Computerstimme mich dazu aufgefordert hatte.
Von Rachel war nichts zu sehen.
Das Tor quietschte, als ich es aufstieß. Das Geräusch hallte durch die Nacht. Ich schlüpfte durch den Spalt und tauchte in die Finsternis.
Rachel spürte das Schwanken des Autos, als Marc ausstieg.
Sie zwang sich, eine ganze Minute zu warten, die ihr wie zwei Stunden vorkam. Als sie meinte, es wagen zu können, öffnete sie den Kofferraumdeckel einen Spaltbreit und spähte hinaus.
Sie sah niemanden.
Rachel hatte eine Pistole dabei, eine halbautomatische Glock 22 Kaliber .40, und ihr Nachtsichtgerät, ein Rigel 3501 der 2+-Generation. Den Palm Pilot, der die Q-Logger-Daten lesen konnte, hatte sie in der Tasche.
Sie bezweifelte, dass
Weitere Kostenlose Bücher