Keine zweite Chance
auf den Fotos.« Tickner zeigte darauf. »War sie bei ihm?«
»Nein.«
»Haben Sie sie schon mal gesehen?«
Carson und Edgar verneinten. Edgar hob eins der Bilder auf. »Meine Tochter hat einen Privatdetektiv beauftragt, diese Bilder zu machen?«
»Ja.«
»Das verstehe ich nicht. Wer ist das?«
Wieder ignorierte Tickner die Frage. »Wurde die Lösegeldforderung an Sie zugestellt, wie beim letzten Mal?«
»Ja.«
»Das verstehe ich nicht. Woher wussten Sie, dass es kein Schwindel ist und Sie es mit den richtigen Entführern zu tun haben?«
Carson antwortete darauf. »Wir haben es für einen Schwindel gehalten«, sagte er. »Anfangs jedenfalls.«
»Und warum haben Sie Ihre Meinung geändert?«
»Sie haben wieder Haare geschickt.« Carson erzählte kurz vom Ergebnis des DNA-Tests und von Dr. Seidmans Wunsch nach weiteren Untersuchungen.
»Und daraufhin haben Sie ihm alle Haare gegeben?«
»Ja«, antwortete Carson.
Edgar versenkte sich wieder in die Fotos. »Diese Frau«, fauchte er. »Hatte Seidman was mit ihr?«
»Die Frage kann ich nicht beantworten.«
»Warum hätte meine Tochter sonst diese Fotos machen lassen sollen?«
Ein Handy klingelte. Tickner entschuldigte sich und hielt seines ans Ohr.
Bingo«, verkündete O’Malley.
»Was?«
»Wir haben einen Treffer auf Seidmans E-ZPass . Er ist vor fünf Minuten über die Washington Bridge gefahren.«
Die Computerstimme wies mich an: »Gehen Sie den Pfad entlang.«
Es war immer noch so hell, dass man die ersten Stufen erkennen konnte. Ich stieg sie langsam hinab. Um mich herum wurde es immer dunkler. Ich begann, mich langsam mit dem Fuß vorzutasten wie ein Blinder mit seinem Stock. Das Ganze gefiel mir nicht. Es gefiel mir überhaupt nicht. Wieder fragte ich mich, wo Rachel war. War sie in der Nähe? Ich versuchte, dem Pfad zu folgen. Er wandte sich nach links. Ich stolperte auf dem Kopfsteinpflaster.
»Okay«, sagte die Stimme. »Halt.«
Ich blieb stehen. Vor mir war nichts zu sehen. Hinter mir schimmerte das schwache Dämmerlicht der Straße. Rechts ging es steil bergauf. Der typische Geruch nach Stadtpark lag in der Luft, ein wildes Durcheinander aus frischen und abgestandenen Düften. Ich lauschte, versuchte irgendetwas aufzuschnappen, hörte aber nur das ferne Brummen von der Straße.
»Stellen Sie das Geld auf den Boden.«
»Nein«, sagte ich. »Ich will meine Tochter sehen.«
»Stellen Sie das Geld auf den Boden.«
»Wir haben eine Abmachung. Wenn Sie mir meine Tochter zeigen, zeige ich Ihnen das Geld.«
Ich bekam keine Antwort. Ich hörte das Blut in meinen Adern rauschen. Die Angst war erdrückend. Nein, das gefiel mir nicht. Ich fühlte mich ausgeliefert. Ich warf einen Blick auf den Pfad hinter mir. Ich konnte immer noch losrennen und wie ein Irrer schreien. In diesem Viertel waren die Anwohner aufmerksamer als in den meisten anderen Gegenden Manhattans. Vielleicht würde jemand die Polizei rufen oder mir zu Hilfe kommen.
»Dr. Seidman?«
»Ja.«
Dann schien mir der Strahl einer Taschenlampe ins Gesicht. Ich blinzelte und schirmte die Augen mit der Hand ab. Mit zusammengekniffenen Lidern versuchte ich, an dem Strahl vorbeizusehen. Der Strahl wanderte abwärts. Meine Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit, doch das war gar nicht nötig. Der Strahl traf auf eine Silhouette. Sie war nicht zu verkennen. Ich erkannte sofort, was da beleuchtet wurde.
Da stand ein Mann. Vielleicht habe ich sogar ein Flanellhemd gesehen, das kann ich nicht genau sagen. Es war wie gesagt eine Silhouette. Gesichtszüge, Farben oder sonstige Einzelheiten konnte ich nicht richtig ausmachen. Das Flanellhemd könnte also Einbildung gewesen sein. Alles andere jedoch nicht. Die Formen und Umrisse waren eindeutig.
Neben dem Mann stand ein Kind. Es hielt sein Bein dicht über dem Knie fest umklammert.
27
Lydia wünschte, sie hätte mehr Licht. Nur zu gerne hätte sie jetzt den Ausdruck auf Dr. Seidmans Gesicht gesehen. Das hatte nichts mit der Grausamkeit zu tun, die sie gleich begehen würde. Es war reine Neugier. Es saß tiefer als der Fahr langsamer, damit wir
uns den Unfall ansehen können -Aspekt der menschlichen Natur. Man musste sich das einmal vorstellen. Diesem Mann hatte man sein Kind weggenommen. Anderthalb Jahre hatte er sich gefragt, was mit seiner Tochter geschehen war, hatte sich nachts schlaflos im Bett herumgewälzt und Schrecknisse heraufbeschworen, die am besten tief in den dunklen Abgründen unseres Unterbewusstseins verborgen
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