Keltengrab: Thriller (German Edition)
Aufmerksamkeit schenken, da es sein erstes Weihnachten hier sei. Und du weißt, wie gern sie ihren einzigen Enkel verwöhnt.«
Ich hätte meiner Mutter in diesem Moment um den Hals fallen können. Natürlich nicht vor Richard.
»Stell dich nie gegen eine Großmutter«, sagte ich.
»Sie war auch wegen dir besorgt. Sie sagte, du hättest eine anstrengende Woche hinter dir und könntest ein bisschen Ruhe vertragen.«
»Das stimmt. Aber ich würde Vater gern irgendwann morgen besuchen.«
»Ja, das wollen wir wohl alle. Vielleicht machen wir einen Besuchsplan, damit wir uns nicht alle zur gleichen Zeit um ihn drängeln.«
»Gute Idee. Das wird ihn auch mehr freuen.« Ich log natürlich. Mein Vater war zu Freude nicht mehr fähig. Aber das musste ich Richard nicht sagen. »So«, fuhr ich fort, »was ist nun mit diesen Reliefs über der Tür?«
53
Richard nahm den Ausdruck zur Hand, den er zuvor betrachtet hatte, und klopfte mit einem Kugelschreiber darauf. »Aufgrund meiner Arbeit mit Frühgeborenen habe ich die meisten dieser Geschöpfe irgendwann einmal gesehen – in der Realität. Die inneren Bogen dieser Kirchentür sind wie ein Schaukasten für alle möglichen angeborenen Missbildungen.«
Ich nahm ihm das Bild weg und sah es noch einmal an. »Aber die Zyklopen, die Blemmyae, die Cynocephali – sie alle gehörten zu den Rassen, von denen man allgemein glaubte, sie würden in den Ländern jenseits von Europa leben.«
»Sicher, aber sie könnten ebenso gut in Stein gehauene Aufzeichnungen von Monstergeburten und angeborenen Missbildungen sein.« Er hielt den Ausdruck hoch, der die Türpfosten und Kapitelle zeigte. »Hier, sieh dir diese Gesichter an, aus denen das Laubwerk sprießt: Die Augen sind geschlossen, die Lider sehr schwer, der Mund nach unten gezogen – das klassische Aussehen eines Kindes, das ohne Gehirn zur Welt kommt.«
Er kehrte zu den Bogen zurück und zeigte mit dem Kugelschreiber, worüber er gerade sprach. »Und nimm die Gestalten hier auf dem Fries – Zyklopie, zum Beispiel, das ist ein Merkmal von …«
»Ich habe eines gesehen, Richard«, unterbrach ich. »Das arme Ding hatte eine Vielzahl von Missbildungen.«
»Oder der Bursche hier – ein Beispiel für ein inienzephalisches Kind mit einem Hydrozephalus.« Er hatte den Kugelschreiber auf eine Figur gerichtet, die ich für einen Blemmya gehalten hätte. »Eine gewaltige Vergrößerung des Schädels, kein Hals, Kinn an der Brust befestigt … und so scheinen sich Mund und Augen auf dem Oberkörper zu befinden, nicht im Kopf. Dann diese Meerjungfrau. Ihre Beine sind zusammengewachsen, und die Hände sind …«
»Syndaktylie, so heißt es doch, oder? Auch das hatte dieses kleine Mädchen gehabt.«
»Syndaktylie umfasst eine Reihe von Missbildungen der Hand, eine der schwersten ist, worunter der Kerl hier leidet …« Er zeigte auf den Mann mit einer Zange anstelle einer Hand. »Dafür gibt es verschiedene Namen, von Spalthand bis Hummerscherenhand. Tierbezeichnungen tauchen auf diesem Feld häufig auf, wahrscheinlich aus demselben Grund, aus dem die Schöpfer dieser Reliefs für ihre Abbildungen nach Vergleichen in der Tierwelt gesucht haben: Es ist der Versuch, einen Sinn zu erkennen. Hier ist ein gutes Beispiel: Dieser löwenköpfige Mann – ich würde sagen, er leidet unter der Paget’schen Krankheit, die Schädelknochen wachsen im Lauf der Zeit zu ungeheurer Stärke und Massivität an – sehr schmerzhaft für den, der darunter leidet. Dieses Ding hier, das wie ein Oktopus aussieht, sind wiederum zusammengewachsene Zwillinge, ihre Gesichter sind verschmolzen und bilden einen übergroßen einzelnen Schädel, auf dem ein drittes Gesicht nach außen schaut, und das hier sind nicht acht Tentakel, sondern Arme und Beine.«
Wenn Richard Recht hatte, mussten einige der imaginären Menschenrassen des Mittelalters Projektionen von Dingen gewesen sein, die man damals bei Geburten zu sehen bekommen hatte, von Menschen, die sich in halbdunklen, verrauchten Katen herumdrückten, oder die man in einem Käfig durchs Dorf fahren sah. Oder, wie es im Fall der Grange Abbey wahrscheinlich war, die man ihnen zur Beerdigung gebracht hatte.
Richard sah mich über die Fotografie hinweg an. »Ich muss sagen, Schwesterherz, das fasziniert mich alles sehr, und bestimmt würden meine Berufskollegen ebenfalls gern davon erfahren. Könntest du mir die Bilder vielleicht mailen und ein paar Informationen über diese Kirche mitschicken?«
»Ja,
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