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Kelwitts Stern

Kelwitts Stern

Titel: Kelwitts Stern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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ab, die hinab zur Hauptstraße führte.
    Im nächsten Moment schien ihr ganzer Körper auf dem Sattel herumzufahren, und ihr Gesicht war ein einziges Fragezeichen, als sie noch einmal zum Fenster von Sabrinas Zimmer hochschaute. Doch da hatte Sabrina Kelwitt schon blitzschnell unter die Brüstung gezogen, und so versteckt hörten sie das Scheppern eines umstürzenden Fahrrads und gleich darauf einen schrillen Schmerzensschrei.
    »Geschieht ihr recht«, meinte Sabrina grimmig. »Sie hat mir für alle meine Aufsätze schlechte Noten gegeben. Einmal hat sie sogar ›Zu viel Phantasie‹ daruntergeschrieben. Ha!«
    »Zu viel Phantasie?«, wiederholte Kelwitt, ohne zu verstehen.
    »Genau. Als ob man zu viel Phantasie haben könnte.« Es gefiel ihr, so neben ihm zu sitzen, nebeneinander auf dem Boden, mit dem Rücken zur Heizung. Auch wenn ihr Parka dabei durchweichte. »Wie ist das bei dir zu Hause? Ihr baut keine Häuser, hab ich das richtig verstanden?«
    »Wir bauen Nester, unter der Oberfläche. Es gibt Gänge und Hohlräume, Schächte für das Meerwasser … Die Lederhäute bauen aber auch Häuser, fast wie eure.«
    »Das habe ich noch nicht verstanden. Diese ›Lederhäute‹, von denen du immer erzählst – wer sind die?«
    »So nennen wir Jombuuraner, die das Leben am Meer aufgeben und in Städten mitten auf dem Land wohnen. Ihre Haut trocknet aus und verändert sich, auch durch Mittel, die sie nehmen.«
    »Und warum tun sie das?«
    Kelwitt machte eine seiner grazilen Gesten, besann sich aber dann und zuckte gekonnt mit den Schultern. »Es ist eben eine Art zu leben. Die Lederhäute wollen frei sein vom Wasser, von allen Beschränkungen der Natur. Sie lieben alles Technische, bauen alle unsere Maschinen. Wir handeln mit ihnen. Wir liefern ihnen Nahrung und erhalten Geräte dafür.« Er sah sich in Sabrinas Zimmer um, deutete auf die Stereoanlage, das Telefon und den Radiowecker. »Ihr könntet auch Lederhäute sein.«
    »Wie bitte?«, meinte Sabrina empört. »Ich hab doch nicht viel Zeug. Ich hab ja nicht mal einen eigenen Computer.«
    »In der Donnerbucht leben wir mit so wenig technischen Geräten wie möglich. Das ist bei uns so Brauch.«
    »Gibt es noch mehr solche Gruppen wie euch und die Lederhäute?«
    Kelwitt schien zu überlegen. »Ja. Die Sternfahrer zum Beispiel. Oder die Treiber. Treiber leben nur auf dem Wasser, auf selbst gebauten Flößen. Oder vor zwei Sonnenumläufen hatten wir …«
    »Jahre. Einen Sonnenumlauf nennen wir ein Jahr.«
    »Ein Jahr? Ich verstehe. Vor zwei Jahren hatten wir eine Gruppe von Weltwanderern zu Gast. Das sind kleine Schwärme, die keine Nester anlegen. Sie sind immer auf Wanderschaft. Sie bemalen ihre Körper bunt, wissen Geschichten zu erzählen und beherrschen viele Fertigkeiten, mit denen sie sich beliebt machen bei denen, die sie aufnehmen.«
    »So eine Art Zigeuner«, nickte Sabrina.
    »Eure Zigeuner sind aber nicht sehr angesehen, habe ich gelesen«, korrigierte Kelwitt.
    »Du hast wirklich das ganze Lexikon geschafft.«
    »Die Weltwanderer bewahren das Wissen und tragen es weiter. Sie haben uns zwei neue Arten gezeigt, Grundschleimer zu fangen. Eine davon haben wir übernommen. Sie stammt aus der Sieben-Winde-Bucht. Dort ist noch nie jemand von uns gewesen. Ohne die Weltwanderer hätten wir nie davon erfahren.«
    In diesem Augenblick ging die Tür auf, und Thilo kam herein, noch in seinem abgeschabten Wintermantel. »Ist das arschkalt hier«, beschwerte er sich sofort. »Wieso habt ihr denn das Fenster offen, seid ihr wahnsinnig?«
    »Du kannst gern wieder gehen, wenn dir was nicht passt«, versetzte Sabrina, langte aber hoch, um den Fensterflügel zu schließen. Dabei spähte sie verstohlen hinaus, aber Frau Lange war schon nicht mehr zu sehen. »Und, was ist? Hast du die Videokamera mitgebracht?«
    Am Montagnachmittag hatte Geheimagent Hermann Hase immer noch kein Telefon am Bett. Gelinde gesagt, eine Unverschämtheit. Jedes Mal, wenn eine Schwester hereinkam, beschwerte er sich, jedes Mal nahm die Schwester seine Beschwerde freundlich lächelnd entgegen, versprach, sich darum zu kümmern – und jedes Mal geschah nichts.
    Gleiches musste mit Gleichem vergolten werden, Betrug mit Betrug. Seit gestern tat Hermann Hase nur noch so, als schlucke er brav die Tabletten, die man ihm brachte, stellte sich danach schläfrig oder gar schlafend, was, der zufriedenen Reaktion des Pflegepersonals nach zu urteilen, genau die Wirkung war, die man erwartete, und entsorgte die

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