Kelwitts Stern
noch irgendwo sein. Wenn wir das im Gästezimmer aufstellen und mit ein paar Zentimetern Wasser füllen, wie wäre das?«
Sie kamen überein, dass es auf jeden Fall einen Versuch wert war. Die nächste Stunde verbrachten sie damit, das aufblasbare Gummiteil in den verschiedenen Kellern und Abstellkammern des großen Mattekschen Hauses zu suchen. Nora war sich sicher, dass sie es nicht bei irgendeinem Sperrmüll weggegeben hatte. Sie war sich allerdings auch sicher, dass es in einem der Kartons sein müsse, die an der hinteren Garagenwand standen, aber in diesen Kartons, das war nach einer staubigen Suchaktion klar, war es nicht. Im Kel1er, bei den Gartensachen? Dort fanden sie zwar kein aufblasbares Planschbecken, aber dafür das alte Zelt, das Thilo im Vorjahr auf seine Fahrradtour hatte mitnehmen wollen.
»Naja«, meinte Nora Mattek und hob die schwere braune Plane in die Höhe. »Ich glaube, selbst wenn wir es gefunden hätten, hätten wir Thilo doch ein neues gekauft. Das ist ja doch eher was fürs Auto.«
»Vielleicht sollten wir auch einfach ein neues Planschbecken kaufen«, schlug Sabrina vor und sah sich angewidert ihre Hände an, die inzwischen schwarz waren vor Dreck.
»Heute? Zwei Tage vor Heiligabend?«, meinte ihr Vater. »Wenn du mir sagst, wo man um die Zeit eines kriegt, herzlich gern.«
Sie fanden es schließlich auf dem Dachboden, bei den Urlaubssachen. Irgend jemand – jedes Elternteil stritt ab, es gewesen zu sein – hatte in einem Anfall von Ordnungs- und Kategorisierungswut alles, was aus Plastik oder Gummi und aufblasbar war, in einer Pappkiste verstaut: aufblasbare Schwimmtiere, Luftmatratzen und eben das aufblasbare Planschbecken aus Kindertagen. Die Fußluftpumpe mussten sie zum Glück nicht mehr suchen, die lag gleich daneben.
Thilo fühlte sich ausgesprochen gut, als er kurz nach fünf wieder im Altersheim ankam, rundum zufrieden und, wie es ihm immer vorkam nach derartigen Nachmittagen oder Nächten bei Emma, mindestens fünf Zentimeter größer. Man sagte ihm, dass Herr Güterling schon mehrmals nach ihm gefragt habe.
Als er ihn in seinem Zimmer besuchte, saß Herr Güterling in seinem Ohrensessel am Fenster und schaute hinaus in die anbrechende Dunkelheit.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte Thilo und setzte sich auf den Stuhl neben ihn.
»Ich weiß nicht«, meinte der alte Mann. »Ich glaube, ich habe mein Leben verpfuscht.«
»Meinen Sie?«
Thilo war nicht der Typ, solche Äußerungen mit billigem Trost zu erschlagen. Im Gegenteil – er wollte alles darüber erfahren, wie man ein Leben verpfuschen konnte, solange er noch jung war. Das war mit ein Grund, warum er hierherkam.
»Habe ich dir schon mal erzählt«, fragte Güterling, »dass Wernher von Braun mich nach dem Krieg gebeten hat, mit ihm nach Amerika zu gehen?«
»Doch«, sagte Thilo, »ich habe davon gehört.«
»Er hat mich gebeten mitzukommen«, versicherte Güterling, wie er das immer zu tun pflegte, »ja, wirklich. Ich habe damals abgelehnt, weil meine Frau es nicht wollte. Amerika, die fremde Sprache, keine Leute, die man kennt, und so weiter. Kannst du dir das vorstellen?«
Thilo nickte.
»Wir haben uns dann durchgeschlagen, im Nachkriegsdeutschland, in den Trümmern, in elenden Jobs. Und schließlich hat sie mich verlassen, ist einfach auf und davon, mit einem Kerl, der Geld hatte und ein Auto und so. Dieses Miststück. Geschieht ihr ganz recht, dass sie dann so früh gestorben ist.«
Thilo seufzte. Ein Weg, sich das Leben zu verpfuschen, war ganz offenbar, alte Wunden niemals heilen zu lassen, sondern immer und immer wieder darin herumzuwühlen.
»Glaubst du, man trifft seine Angehörigen im Jenseits wieder?«, fragte Güterling. »Glaubst du das?«
»Keine Ahnung«, gestand Thilo. »Ich weiß nicht mal, ob es überhaupt ein Jenseits gibt.«
Der alte Mann schaute wieder hinaus, hinauf in den wolkigen, düsteren Himmel.
»Ich schätze, ich werde es bald erfahren«, meinte er versonnen. »Aber weiß Gott, ich habe immer noch keine Lust, sie wiederzusehen, das kannst du mir glauben!«
Thilo betrachtete ihn von der Seite. In dem schummrigen Licht sah die pergamentene Haut schon aus wie die einer Mumie. Das war es also, was am Ende von einem blieb – eine Ruine von einem Körper und unerfüllte Sehnsüchte.
»Ich wollte immer wissen, was dort oben ist«, sprach Güterling weiter, als habe er gehört, was Thilo gedacht hatte. »Welche Geheimnisse die Sterne vor uns verbergen … Und jetzt sehe ich sie
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