Kennedy-Syndrom - Klausner, U: Kennedy-Syndrom
ins Gesicht, zielte auf Bradlees rechtes Bein und drückte ab.
Sekundenbruchteile später, noch ehe sich der süßlich duftende Zigarillorauch verflüchtigt hatte, heulte der CIA-Agent vor Schmerzen auf, ließ seinen Koffer fallen und umklammerte seinen fettstrotzenden Oberschenkel, aus dem das Blut zunächst tropfenweise, danach aber wie aus einer üppig sprudelnden Quelle hervorsickerte. Eine Weile noch taumelte Dave Walker Bradlee, Kurier in Diensten der CIA, wie ein riesiges, zum Kippen gebrachtes Fass hin und her. Dann aber, einen obszönen Fluch auf den Lippen, verlor er das Gleichgewicht, schlingerte, wimmerte, geiferte – und brach zu Füßen des Zarewitsch zusammen.
»Etwas dagegen, wenn wir unsere freundschaftliche Unterredung fortsetzen?«, lautete seine Frage, bevor er den Zigarillo in einen Abfalleimer warf und seine Smith & Wesson auf die Stirn seines Widersachers richtete. »Nein? Freut mich zu hören, Herr Kollege – schießen Sie los!«
6
Berlin-Charlottenburg, Bahnhof Zoo | 04.56 Uhr
Jim Brannigan, Führungsoffizier in Diensten der CIA, verstand die Welt nicht mehr. Zuerst hatte es geheißen, der Zarewitsch sei vermutlich hopsgenommen und vom KGB exekutiert worden.
Und dann, wie aus heiterem Himmel, er sei noch am Leben.
Da sollte mal einer schlau daraus werden.
Egal, was dahintersteckte, sein Schicksal ließ Brannigan nicht kalt. Zum einen, weil er den Zarewitsch angeworben, unter seine Fittiche genommen und einen Agenten aus ihm gemacht hatte, der bei der CIA seinesgleichen suchte. Aber auch, weil ihm der smarte Halbrusse während der acht Jahre, in denen er mit ihm zusammengearbeitet hatte, ans Herz gewachsen war. Das war natürlich ein Fehler, namentlich in diesem Job. Für Dinge wie Loyalität, Rücksichtnahme oder gar persönliche Sympathie war bei der CIA kein Platz. Da war man auf sich allein gestellt, da fraß man, um nicht gefressen zu werden. Nur so konnte man in der Branche, welcher er seit knapp 30 Jahren angehörte, überleben. Nur so, und nicht, indem man wie er den großen Bruder spielte. Das hatte er nach dem Anruf von Calabrese, der ihn vor einer guten halben Stunde erreicht hatte, wieder einmal zu spüren bekommen.
An Deutlichkeit hatten die Worte von Flabby 21 Luke, die er zunächst für einen Scherz gehalten hatte, nämlich nicht zu wünschen übrig gelassen. Konspirative Zusammenkunft am Lehrter Stadtbahnhof, Übergabe hochbrisanter Dokumente und umgehende Liquidierung des seit mehreren Monaten verschollenen CIA-Agenten durch einen Kurier. Genauso hatte sich Calabrese ausgedrückt. Der 49-jährige, auf einen Gehstock gestützte und dank Halbglatze, ergrauter Schläfen und zerfurchten Gesichtszügen wesentlich älter wirkende Führungsoffizier der CIA konnte es immer noch nicht fassen. So etwas musste man erst einmal verdauen, selbst, wenn man wie er jahrzehntelang für die Firma tätig gewesen war. Vor allen Dingen, weil sich Calabrese über den Grund für seine Order ausgeschwiegen und sein beharrliches Nachfragen mit den Worten abgewürgt hatte, dies sei ein Befehl. Und daran habe er sich zum Teufel noch mal zu halten. Kontaktaufnahme, Sicherstellung der Geheimunterlagen und anschließende Liquidierung. Einwände und Fragen unerwünscht.
Wie gesagt, da sollte mal einer schlau daraus werden.
Um sich abzulenken, nahm Jim Brannigan einen Schluck aus seinem Flachmann, steckte ihn wieder ein und ließ den Blick über den beinahe menschenleeren Bahnsteig wandern. Er war ein Mann, der nichts dem Zufall überließ, auch jetzt nicht, wo außer einer alten Frau, zwei einander lauthals zuprostenden Halbstarken und ihm selbst kein Mensch oder sonst etwas Verdächtiges zu sehen war. In ein, zwei Minuten würde die S-Bahn ankommen, Bradlee aussteigen und die Dokumente, an denen den Jungs in Langley offenbar so viel lag, auf diskrete Art und Weise in den dafür auserkorenen Abfalleimer werfen. Nach getaner Arbeit würde der Texaner, dem der Ruf des geborenen Killers vorauseilte, schleunigst das Weite suchen und er, Brannigan, besagte Unterlagen an sich nehmen, um sie unmittelbar danach einem Vertrauten von Calabrese auszuhändigen. Offenbar stand für die Herren in Virginia und Washington einiges auf dem Spiel, sonst hätte sich der Leiter von DECOP nicht die Mühe gemacht, höchstpersönlich auf der Bildfläche zu erscheinen. Brannigan hatte keine Ahnung, weshalb Calabrese einen derartigen Aufstand machte, aber da er sich abgewöhnt hatte, über
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