Kennedy-Syndrom - Klausner, U: Kennedy-Syndrom
Sektorengrenze mithilfe von Stacheldraht abzusichern begannen. Noch war ihr Werk nicht vollendet, noch gab es Stellen, an denen beherzte Westberliner die Spirallagen zur Seite schoben, Lücken, durch die auf der anderen Seite wartende Ostberliner entkommen konnten. Sydow half, wo er nur konnte. Doch dann, nur einen Steinwurf vom Potsdamer Platz entfernt, tauchten mehrere Schützenpanzer auf, gefolgt von Baukolonnen, die weitere Stacheldrahtspiralen verlegten. Auf die wiederum ein Trupp Volkspolizei folgte, im Begriff, möglichst viele Ostberliner an der Flucht zu hindern.
Drauf und dran, seine Waffe zu ziehen, blieb Sydow stehen und sah den Hauptmann, der den Befehl zur Ergreifung einer vierköpfigen Familie gab, mit einer Mischung aus Wut und Entsetzen an. Vor 16 Jahren, bei Kriegsende, hatte er noch gehofft, dass sich Szenen wie diese so schnell nicht wiederholen würden. Nicht einmal im Traum hätte er damals daran gedacht, dass er eines Besseren belehrt werden würde.
»Hände weg von den Leuten!«, herrschte Sydow den Hauptmann der DVP 44 an, ziemlich sicher, ihn schon einmal gesehen zu haben. Dieser wiederum, höchstens 20 Meter von ihm entfernt, dachte offenbar nicht daran, klein beizugeben, stemmte die Hände in die Hüften und näherte sich der Demarkationslinie, um Sydow zurechtzuweisen.
Sehr weit kam der schneidige, hoch aufgeschossene und dunkelhaarige Endzwanziger mit der tadellos sitzenden grünen Uniform, Prototyp des dienstbeflissenen Staatsdieners, jedoch nicht. Den Mund halb offen, blieb ihm die Antwort, die er Sydow geben wollte, gleichsam im Halse stecken. Im Licht der Scheinwerfer, welche auf östlicher Seite aufgestellt worden waren, wirkte er noch bleicher als sonst, bleicher als der forsche Absolvent der Polizeischule, den sein Gegenüber, kaum weniger überrascht als er, bereits mehrfach getroffen hatte.
Es war Sydow, der als Erstes die Sprache wiederfand, just in dem Moment, als die Ostberliner Familie eine Lücke im Stacheldraht erspähte, die Verblüffung der Uniformierten, welche ihrem Vorgesetzten fragende Blicke zuwarfen, kurzerhand ausnutzte und wohlbehalten auf die andere Seite der Demarkationslinie entkam. »Wo sind Lea und Veronika?«, schrie Sydow den Vopo an, froh über die Drahtrolle, welche ihn davon abhielt, eine neuerliche Dummheit zu begehen. Der Hauptmann, an dem seine Stieftochter aus unerfindlichen Gründen einen Narren gefressen hatte, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, überlegte es sich jedoch anders und bedeutete seinen Leuten, die Lücke im Stacheldraht zu schließen. »Raus mit der Sprache, Viktor, sonst kannst du was erleben!«
»Wenn Sie klug sind, guter Mann, halten Sie jetzt den Mund!«, bellte der Vopo zurück und tat so, als habe er Sydow noch nie gesehen. Dies gelang ihm mehr schlecht als recht, was jenen erst richtig in Rage brachte. »Sonst sehe ich mich gezwungen, Maßnahmen gegen Ihre Provokation zu ergreifen!«
»Du sagst mir jetzt, wo die beiden sind«, knirschte Sydow, kurz davor, ausfallend zu werden, und trat gegen den Pfosten, an dem der Stacheldraht befestigt worden war, »haben wir uns verstanden, Herr Kunersdorf ? Sonst …«
»Wachtmeister Kallwass, Leutnant Strelitz – weisen Sie den Mann darauf hin, dass er sich des unerlaubten Grenzübertritts schuldig gemacht und für den Fall, dass er seine Provokationen nicht unterlässt, mit ernsthaften Konsequenzen zu rechnen hat.«
»Sag mal, du Schnösel, hast du eigentlich nichts Besseres zu tun als den Hilfssheriff zu spielen?«, brüllte Sydow, während seine Hand unter dem Sakko verschwand und nach dem Halfter tastete, in dem sich seine Dienstwaffe, eine geladene Walther P4, befand. »Grenzverletzung – komm mir doch nicht mit so was. Welche Grenze denn, verdammt noch mal? Ohne Chruschtschow und die Genossen in Moskau hättet ihr doch schon lange einpacken können. Und jetzt kommt der Herr Hauptmann daher und besitzt die Frechheit, das Wort Grenze in den Mund zu nehmen. Soll ich dir was sagen, du Klugscheißer? Wenn ihr schlau seid, hängt ihr eure Uniform an den Nagel und seht zu, dass ihr die Kurve kratzt. Sonst sehe ich schwarz, junger Mann!«
»Noch ein Wort, und ich sehe mich gezwungen, von der Waffe Gebrauch zu machen!«
»Nur zu, tu dir keinen Zwang an. Zum letzten Mal, Viktor – wo sind Lea und Veronika?«
»Lea? Veronika? Nie gehört.«
»Na schön, Herr Hauptmann, du hast es ja nicht anders gewollt!«, knurrte Sydow, den Griff seiner Waffe bereits in der Hand. »Ich
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