Keraban Der Starrkopf
unbekannte russische in holländisches Gewicht zu übersetzen hoffte.
Auf dem Quai eines Hafens, in dem Zollabfertigung stattfindet, trifft man stets einige so große Wagen, daß ein Mensch auf ihren Schalen bequem abgewogen werden kann.
Nach dieser Seite befand sich Bruno also nicht in Verlegenheit. Die Spendung einiger Kopeken bestimmte die Beamten, seiner Laune zu willfahren. Auf eine der großen Wagschalen wurde also ein beträchtliches Gewicht gelegt, und nicht ohne eine gewisse Unruhe bestieg Bruno die andere.
Zu seinem großen Mißvergnügen blieb die mit dem Gewichtsstücke beschwerte Schale am Boden haften. Wie Bruno sich auch selbst schwerer zu machen sachte – vielleicht glaubte er das durch Aufblähen zu erreichen – es gelang ihm nicht, dieselbe zum Steigen zu bringen.
»Alle Teufel, sagte er, das fürchtete ich eben!«
An Stelle des ersten kam jetzt ein leichteres Gewicht auf die Wage, aber auch jetzt rührte die Schale sich nicht von der Stelle.
»Ist es möglich?« rief Bruno, der sein ganzes Blut sich im Herzen zusammendrängen fühlte.
Da fiel sein Blick auf eine behäbige Persönlichkeit, deren Gesicht die wohlwollendste Theilnahme für ihn verrieth.
»Mynheer!« rief er erfreut und verwundert.
Wirklich war es Van Mitten, den bei seinem Spaziergange der Zufall nach dem Quai geführt hatte und auch genau dahin, wo die Beamten sich eben mit Feststellung des Gewichtes seines Dieners beschäftigten.
»Mynheer, wiederholte Bruno, Sie hier?
– Ich selbst, antwortete Van Mitten. Ich sehe mit Vergnügen, daß Du eben dabei bist…
– Mich wiegen zu lassen… ja.
– Und das Ergebniß?
– Das Ergebniß ist ein so trauriges, daß ich nicht weiß, ob es ein so geringes Gewicht giebt, welches anzeigen könnte, wie wenig ich zur Stunde wiege!«
Bruno gab diese Antwort mit einem so schmerzlichen Gesichtsausdruck, daß der darin liegende Vorwurf Van Mitten wirklich zu Herzen ging.
»Wie, rief er, seit unserer Abreise wärest Du so abgemagert, mein armer Bruno?
– Urtheilen Sie nur selbst, Mynheer!«
In der That wurde eben ein drittes, noch leichteres Gewicht als die beiden vorigen auf die Wagschale gelegt.
Diesmal hob Brunos Körperlast es nach und nach empor, so daß die beiden Wagschalen in eine horizontale Linie zu stehen kamen.
»Endlich! rief Bruno, doch was für ein Gewicht ist das?
– Ja, was ist das für ein Gewicht?« wiederholte Van Mitten.
Dasselbe betrug nach russischem Gewicht genau vier Pud, nicht mehr und nicht weniger.
Sofort ergriff Van Mitten den Reiseführer, den Bruno ihm überreichte, und schlug die Gewichtsvergleichungstabelle für verschiedene Länder auf.
»Nun, Mynheer, fragte Bruno, eine Beute mit Angst gemischter Neugier, wieviel macht ein russisches Pud?
– Ungefähr sechszehneinhalb Pond holländisch, belehrte ihn Van Mitten nach kurzem Kopfrechnen.
– Und das macht?
– Das macht genau fünfundsiebenzigeinhalb Pond oder hunderteinundfünfzig Pfund!«
Bruno stieß einen Verzweiflungsschrei aus, sprang von seiner Wagschale, während die andere mit Gewalt auf die Erde schlug, und sank halb ohnmächtig auf einer Bank nieder.
»Hunderteinundfünfzig Pfund!« wiederholte er, als ob er nahezu ein Neuntel seines Lebens eingebüßt hätte.
Wirklich wog Bruno bei der Abreise seine vierundachtzig Ponds, oder hundertachtundsechzig Pfund, jetzt aber nur noch fünfundsiebzig und einhalb Pond oder hunderteinundfünfzig Pfund. Er war also um siebzehn Pfund abgemagert! Und das während sechsundzwanzig Tagen einer verhältnißmäßig bequemen Reise, ohne eigentliche Entbehrungen und größere Anstrengungen. Jetzt aber, wo das Unglück angefangen hatte, wo würde dasselbe aufhören? Was würde aus dem Bäuchlein werden, das Bruno sich selbst zugelegt und an dessen hübscher Abrundung er, unter Einhaltung eines wohl abgemessenen Regimes, fast zwanzig Jahre gearbeitet hatte? Wie, sollte er noch unter das ehrbare Mittelgewicht sinken, in dem er sich bisher gehalten – vorzüglich jetzt, wo sich wegen Mangels eines Wagens diese sinnlose Fahrt durch Gegenden ohne Hilfsquellen, bei fortwährenden Anstrengungen und Gefahren unter neuen Bedingungen abspielen sollte?
Diese Fragen stellte sich der besorgte Diener Van Mitten’s. Dabei trat ihm eine flüchtige Vision schrecklicher Zufälle vor das geistige Auge, inmitten derer sich ein ganz unerkennbarer, zum wandelnden Skelet herabgekommener Bruno zeigte.
Das ließ ihm keine Ruhe, und schnell war sein Entschluß gefaßt.
Weitere Kostenlose Bücher