Kerstin Gier 2
wann und wie sie wollen. Wo immer was los ist, weil immer gerade was im Entstehen ist. Irgendwie so in der Art.
»Warum machen Sie das dann nicht?«
»Dazu braucht man Startkapital«, gab ich zu bedenken.
Herr Grenzmeier lächelte, trank seinen Kaffee aus und ging.
Ja. Ganz toll. Wenn ich also erst einmal meinen 110. Geburtstag hinter mir hatte, konnte ich ja noch ein paar Jahre sparen, um dann genug Geld für so ein Projekt zu haben. Prima Idee. Oder ich könnte fragen, ob man mich ins Gefängnis stecken würde. Angeblich konnte man doch im Gefängnis eine Ausbildung machen. Dann hätte ich wenigstens etwas vorzuweisen und müsste nicht erst warten, bis ich …
Ach, es half alles nichts. Schlimm genug, dass ich in der Scheiße steckte, aber dass ich Louise nie etwas bieten können würde, brachte mich schlicht um. Selbst, wenn ich ihr hin und wieder mal etwas Hübsches kaufen könnte, damit sie vor ihren Spielkameraden nicht ganz so blöd dastand – eine vernünftige Ausbildung konnte ich ihr nicht ermöglichen. Und wahrscheinlich war ich auch noch selbst daran Schuld. Ich hätte nicht einfach etwas unterschreiben sollen, was ich nicht durchgelesen hatte, selbst, wenn es von meinem eigenen Ehemann stammte. Oder ich hätte den netten Beamten bei der Hausdurchsuchung einfach sagen sollen, dass das nicht meine Unterschrift auf diesen Papieren war.
»Wieso können Sie denn nicht lügen?«, fragte mich Herr Grenzmeier.
»Warum sollte ich denn lügen?«, entgegnete ich.
»Grundsätzlich würde ich Ihnen natürlich zustimmen«, sagte Herr Grenzmeier, trank seinen Kaffee aus, vergaß diesmal sogar komplett, die fünfzig Euro einzustecken und ging.
Ich log nie. Ich hielt das für eine ganz besonders wundervolle Eigenschaft von mir, und natürlich schärfte ich Louise ebenfalls ein, dass es keinen Grund auf der Welt gab, nicht immer und überall die Wahrheit zu sagen. Wenn jemand im Supermarkt Geld auf dem Boden fand und mich fragte, ob ich es verloren hätte, sagte ich »Nein« statt »Oh, ja, danke, wie unachtsam von mir«. Wenn mich früher die Lehrerin in der Schule gefragt hatte, warum ich zu spät war, sagte ich »Weil ich verschlafen habe« und nicht »Weil auf dem Weg zur Schule ein schrecklicher Unfall war, und ich musste als Zeugin warten, bis die Polizei gekommen ist«. Wenn mich meine Freundinnen fragten, wie der Sex mit einem Mann war, sagte ich »Ach, irgendwie ist es nicht dazu gekommen, ich glaube, er fand mich langweilig« statt »Er war eine Granate! Ich hab ihn nach allen Regeln der Kunst verführt.« Und wenn mich ein Mann fragte, ob er gut im Bett war, sagte ich »Es wäre zumindest besser gewesen, wenn du mit deinem Orgasmus auf meinen gewartet hättest« statt »Oooh, du warst toll!«. Okay, wenn ich jetzt so darüber nachdachte, war es vielleicht nicht immer so ideal, bei der Wahrheit zu bleiben. Man könnte auch sagen, hier und da hätte es durchaus geholfen, ein wenig zu schwindeln oder, sagen wir mal, die Wahrheit aufzurüschen. Aber meine Maxime war immer gewesen: Hauptsache, ich bleibe mir selbst treu. Und das hatte dazu geführt, dass ich mich von Kundinnen, die mit ihren verwöhnten Töchtern nach der Schule im Café herumsaßen, demütigen ließ (»Schätzchen, deshalb ist es so wichtig, dass du gute Noten in der Schule hast. Sonst findest du keinen gescheiten Ehemann und musst als Bedienung arbeiten so wie diese Frau da, die gerade das Tablett hat fallen lassen«).
Wenn ich ehrlich war, hatten mich die Menschen vor der Flucht meines Mannes auch nicht viel besser behandelt. Unsere angeblichen Freunde waren zwar nett zu ihm, aber nicht zu mir gewesen. Nicht wirklich. Und ich hatte mich nie gegen ihre Spitzen gewehrt. Sogar unsere Putzfrau hatte mich fest im Griff gehabt. Keine drei Wochen hatte es gedauert, bis sie raushatte, dass ich ihr sofort glaubte, wenn sie sagte: »Ich war letztens, als Sie nicht da waren, eine Stunde länger da, ich bekomme mehr Geld.« Oder: »Nein, diese Vase war schon kaputt, als ich gekommen bin. Bestimmt haben Sie ein Fenster offen gelassen, und die Katze vom Nachbarn ist reingekommen.«
Mit trüben Gedanken daran, dass ich mit meinen tollen Idealen im Leben nicht besonders weit gekommen war, und im Gegenteil sogar noch das Leben meiner Tochter und bis zu meinem 110. Geburtstag auch mein eigenes versaut hatte, trottete ich durch eine Drogerie, um mich mit dem üblichen Frauenkram einzudecken. Weit kam ich nicht, weil sich gleich im ersten Gang zwei
Weitere Kostenlose Bücher