Kerstin Gier 2
Rotkehlchen. Bei ihnen gibt es seit dem Beginn der Paarungszeit kaum ein anderes Thema als die Brutpflege. Was ist das ideale Material zum Nestbau? Laub, Moos oder doch feine Wurzeln? Dienen kleine Zweige der Stabilität, oder sind sie eine Gefahr für die zarte Kükenhaut? Sind Mehlwürmer tatsächlich die gesündeste und eiweißreichste Nahrung für den frisch geschlüpften Nachwuchs, oder ist das nur wieder so eine neumodische Idee ohne wissenschaftliche Fundierung? Stundenlang könnte ich dabei zuhören, wie sie über die Versorgung ihrer Jungen plaudern. Deshalb stand für mich auch fest, dass nur ein Rotkehlchen als Ziehmutter meines einzigen Sohnes in Frage käme. Wenn ich mein Kind schon in fremde Hände geben müsste – am liebsten hätte ich ihn nämlich behalten und selber aufgezogen. Aber davon wollte Karl, der Kindsvater, nichts wissen.
Seufzend erinnere ich mich an den Beginn unserer Romanze. Flügel über Kopf habe ich mich in Karl verliebt, als ich Ende April dieses Jahres aus dem Süden zurück in unser Brutgebiet im Frankenwald in Bayern kam, wo die Männchen uns schon seit einer Woche erwarteten. Kaum hatte ich Karl, der gemeinsam mit seinem Freund Leopold in der Krone einer stattlichen Tanne saß, entdeckt, war es um mich geschehen. Selbstverständlich habe ich mir nicht das Geringste anmerken lassen. Ein Kuckucksweibchen, das sich einem Männchen an den Hals wirft, das gibt es einfach nicht. Das Balzen muss man schon ihm überlassen, und wenn man noch so begeistert ist. So blieb mir nichts anderes übrig, als gemeinsam mit meiner besten Freundin Kimmy auf einem Baum zu sitzen, ihr von diesem Bild von einem Kuckuck vorzuschwärmen, gleichzeitig Gleichgültigkeit zu heucheln und zu hoffen, dass Karl mich umwerben würde. Beinahe wäre ich vom Ast gefallen, als er sich mir am ersten Mai dann tatsächlich mit geplustertem Gefieder näherte. Obwohl innerlich einer Ohnmacht nahe, zeigte ich ihm den kalten Flügel. Stundenlang ließ ich ihn schmoren, während sein Balzgesang immer lauter wurde. Er spreizte die Flügel, fächerte seinen Schwanz auf und brachte sogar einen Vorrat an dicken, appetitlich duftenden Raupen, die er vor mir niederlegte und die ich schwesterlich mit Kimmy teilte.
»Nun red doch endlich mit ihm, ich denke, jetzt hast du ihn genug schmoren lassen«, sagte diese mit vollem Schnabel.
»Meinst du wirklich?«, vergewisserte ich mich, und sie nickte.
»Er ist doch schon ganz heiser, hör dir das an.« Und tatsächlich, sein Lied drang mittlerweile krächzend aus seiner Kehle, und er warf mir aus seinen wunderschönen, schwarzen Augen flehentliche Blicke zu. Er war so ein stattliches Exemplar, der schönste Kuckuck, den ich in meinem zweijährigen Leben gesehen hatte. Sein Federkleid glänzte schiefergrau, und vor allem sein breiter, charaktervoller Schnabel mit der hellgelben Basis hatte es mir angetan. Betont langsam drehte ich mich zu ihm um und gab ihm mit einem gnädigen Nicken zu verstehen, dass ich ihn für einen würdigen Kandidaten hielt.
Die Nacht, in der wir uns paarten, war die glücklichste meines Lebens. Alles war einfach perfekt. Die untergehende Sonne tauchte den Himmel am Horizont in die herrlichsten Rottöne, ein lauer Wind wehte und ließ das dichte Blattwerk um uns herum rascheln, als wollte er unser Liebesspiel musikalisch untermalen. Danach saßen wir erschöpft nebeneinander, und Karl brachte mir einen fetten Mistkäfer, der mich wieder zu Kräften bringen sollte. Ich war hin und weg von ihm. Wie aufmerksam er war. Wie liebevoll. Und wie gut aussehend. Gemeinsam sahen wir in den sternklaren Nachthimmel hinauf und malten uns aus, wie Junior wohl aussehen würde. Karl bestand darauf, dass sein kurzer, breiter Schnabel seit Generationen in seiner Familie dominant vererbt wurde und dass folglich auch unser Sohn dieses Merkmal tragen würde. Mir sollte es recht sein. Wie schon gesagt, war ich ganz vernarrt in Karls Schnabel, und auch Junior würde damit hinreißend aussehen. Und vielleicht würde er die ungewöhnliche, braun-weiße Sprenkelung der Brustfedern meiner Mutter erben? Wie immer, wenn ich an sie dachte, durchfuhr mich der Schmerz wie ein Nadelstich. Es war ein Schock für mich gewesen, als ich im Alter von vier Wochen die Wahrheit über meine Herkunft erfahren hatte. Dass meine Mutter mich ausgesetzt und der Güte Fremder überlassen hatte. Obwohl ich es mit meiner Ziehmutter gut getroffen hatte, sitzt dieser Stachel bis heute tief. Nachdenklich sah
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