Kerstin Gier 2
ihre. »Glaub mir, es fällt mir nicht leicht, dich wegzugeben. Aber es muss sein, weil es alle tun.« Die Erklärung kam mir selbst fadenscheinig vor, und plötzlich bereute ich es, mich nicht gegen Karl durchgesetzt zu haben. »Du sollst wissen, dass Mama dich sehr liebt, auch wenn sie nicht bei dir ist.« In diesem Moment hörte ich über mir ein Flattern und schon landete Rita wieder neben mir im Nest. Sie rang nach Atem und würgte eine Grille herunter, die ihr noch zur Hälfte aus dem Schnabel hing.
»Du hättest dich nicht so zu beeilen brauchen«, sagte ich verstimmt, weil sie meinen Abschied von Junior so plötzlich abgeschnitten hatte.
»Ich … Sehn … sucht … Kinder.« Endlich schluckte sie den Brocken. »Ich hatte solche Sehnsucht nach den Kindern. Geht es ihnen gut?« Sie ließ den Blick über ihr Gelege schweifen, nickte zufrieden und platzierte sich auf den Eiern. Mein Augapfel, mein Junior, verschwand unter ihrem dicken Hintern. »Vielen Dank fürs Aufpassen.« Ich starrte sie nur an. Sie guckte einigermaßen irritiert zurück. »War noch was?«
»Äh, nein, nein, alles in Ordnung.«
»Ach, da kommt ja auch Rolf.« Auch das noch. Der stolze Papa. Das war definitiv mehr, als ich ertragen konnte, weshalb ich, obwohl es mir fast das Herz zerriss, lieber schnell davonflog.
»Komm doch mal wieder vorbei«, rief Rita mir hinterher, aber ich sah mich nicht um.
Die folgende Nacht kam ich nicht zur Ruhe. Zum einen vermisste ich Junior. Er fehlte mir so sehr, dass ich kaum atmen konnte. Ich fühlte mich amputiert, als sei ich plötzlich ein Kuckuck ohne Flügel. Und ohne Schnabel. Und ohne Krallen. Ich erging mich in Selbstvorwürfen, weil ich meine Optionen nicht besser abgewogen hatte, bevor ich ihn weggab. Sicher hätte ich eine Möglichkeit finden können, Junior bei mir zu behalten. Ihn aufzuziehen, von mir aus auch allein, wenn Karl mir nicht dabei helfen wollte. Alles erschien mir im Nachhinein eine bessere Lösung, als ihn dieser dämlichen Rita zu überlassen. Was hatte ich mir bloß dabei gedacht? Wie hatte sie mich so täuschen können mit ihrem Gefasel über Nestbau und Kükennahrung? Und ihrem tollen Ehemann? All das hatte mich ganz offensichtlich geblendet und über die unleugbare Tatsache hinweggetäuscht, dass die Frau im wahrsten Sinne des Wortes nicht bis fünf zählen konnte. Keine drei Minuten war sie außer Nest gewesen und hatte trotzdem nicht gemerkt, dass danach fünfundzwanzig Prozent mehr Nachwuchs auf sie wartete. Wie konnte ein Vogel nur so dumm sein? Und dieser Person hatte ich nun also meinen einzigen Sohn überlassen. Wie sollte er in diesem Umfeld genug gefördert werden? Wo doch klar war, dass er, mit meinen und Karls Genen ausgestattet, seine gesamte Ziehfamilie intellektuell gesehen schon jetzt in die Tasche stecken konnte?
Auch am nächsten Tag legten sich meine Zweifel nicht. Zunächst versuchte ich, mich abzulenken, meine Gedanken auf etwas anderes zu richten als meinen verlorenen Sohn. Ich verdarb mir den Magen, indem ich mich in einen regelrechten Fressrausch ergab. Zwei Regenwürmer, fünf Heuschrecken, drei Mehlwürmer und sage und schreibe zehn Käfer später gab ich schließlich auf und flog, von Bauchkrämpfen geschüttelt, zu dem Nachbarsbaum von Rita und Rolf, der zum Glück gerade leer stand.
Und hier sitze ich nun seit fast vier Tagen. Die Insekten sind inzwischen verdaut, ich verspüre ein deutliches Hungergefühl, bringe es aber nicht über mich, meinen Standort zu verlassen. Was, wenn Junior genau in dem Moment schlüpft, in dem ich mich etwas so Profanem wie der Nahrungsbeschaffung widme? Diesen Augenblick zu verpassen, würde ich mir nie verzeihen. Deshalb harre ich aus. Wenn ich mich schon nicht selbst um mein Kind kümmern kann, dann will ich doch wenigstens sehen, ob es ihm gut geht. Dass es gut versorgt wird, auch wenn ich für seine intellektuelle Bildung bei den Rotkehlchen absolut schwarzsehe. Aber vielleicht kann ich diesbezüglich im Herbst, wenn wir alle gemeinsam auf die große Reise Richtung Süden gehen, ja noch Schadensbegrenzung betreiben. Ihm Privatunterricht geben. Seine Talente fördern. Mitten in meine Gedanken hinein höre ich es über mir fluchen und Augenblicke später lässt sich Kimmy neben mir auf dem Ast nieder.
»Hier steckst du! Bist du von allen guten Vögeln verlassen?«, schimpft sie mich aus. »Ich suche dich seit Tagen. Ich dachte schon, dir wäre etwas passiert!«
»Mir geht es gut«, sage ich, ohne sie
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