Kerstin Gier 2
ich Karl von der Seite an.
»Ich habe eine fantastische Idee«, sagte ich, bevor mich der Mut verlassen konnte.
»Tatsächlich? Was denn für eine?«
»Lass uns Junior gemeinsam aufziehen.« Er starrte mich so fassungslos an, dass ich hastig fortfuhr: »Ich weiß, es ist ein etwas ungewöhnlicher Gedanke, aber stell es dir doch mal vor. Wir bauen uns ein gemütliches Nest, geräumig genug für uns drei. Wir brüten das Ei selbst aus, und wenn er geschlüpft ist, dann ziehen wir ihn groß. Wir füttern und putzen ihn und sehen ihm dabei zu, wie er wächst und gedeiht. Du sammelst das Futter, ich halte das Nest in Ordnung. Wir sind eine glückliche, kleine Familie. Und wer weiß, vielleicht bekommt Junior nächstes Jahr sogar noch ein Geschwisterchen. Nun, was sagst du dazu?« Erwartungsvoll sah ich Karl an, der meinen Ausführungen regungslos gelauscht hatte. Nun schüttelte er sein Gefieder so heftig, dass ich vor Schreck ein Stück von ihm weghüpfte.
»Was ich dazu sage?«, wiederholte er empört. »Ich sage, mit so einem neumodischen Kram brauchst du mir nicht zu kommen. Ich bin ein Kuckuck, zum Kuckuck. Ein Kuckuck sorgt nicht für seinen Nachwuchs. Er überlässt das anderen.«
»Aber wünschst du dir denn nicht, eine Beziehung zu Junior aufbauen zu können?«, fragte ich zaghaft.
»Er fliegt im Herbst mit uns zusammen ins Winterquartier, was willst du denn noch?«
»Aber dann ist er doch schon ausgewachsen. Und nur einer von vielen in unserem Schwarm. Wärest du nicht gerne dabei, wenn er zu singen anfängt? Fliegen lernt? Seinen ersten eigenen Wurm fängt?«
»Nein, das interessiert mich alles überhaupt nicht. Was du für Einfälle hast.« Er schimpfte mittlerweile wie ein Rohrspatz. »Das Kind kommt in ein fremdes Nest, so wie es unsere Artgenossen schon seit Jahrhunderten gemacht haben, und damit basta. Das muss man sich mal vorstellen, das Kind im eigenen Nest behalten. Was sollen denn die Nachbarn von uns denken?« Mit einem letzten wütenden Blick, der mich den Kopf einziehen ließ, breitete er die Flügel aus, stieß sich vom Ast ab und schwang sich in die Lüfte. Ich blieb traurig zurück.
Das Ei wuchs in mir heran und mir blieb nichts anderes übrig, als für Junior eine geeignete Ziehmutter zu suchen. Ich flog also im ganzen Wald herum, um mich nach dem besten und liebevollsten Pflegeplatz für meinen kleinen Sohn umzuschauen. Da Karl vollkommenes Desinteresse zeigte und ich ihn zudem im Verdacht hatte, bereits ein Auge auf die gerade einjährige Kuckucksdame Korinna vom Nachbarsbaum geworfen zu haben, obwohl doch jeder weiß, dass sie noch mindestens sechs Monate bis zur Geschlechtsreife brauchen würde, nahm ich Kimmy mit. Wer es nicht selbst erlebt hat, kann sich nicht vorstellen, wie schwer einem diese Wahl fällt, wenn es um das eigene Kind geht. Selbst Kimmy war schließlich davon genervt, dass ich an jeder Familie etwas auszusetzen hatte.
»Ich verstehe dich wirklich nicht«, ereiferte ich mich daraufhin. »Du erwartest doch schließlich selber Nachwuchs.« Sie hatte sich in der Nacht von Juniors Zeugung mit einem bereits vierjährigen, aber noch äußerst attraktiven Männchen zusammengetan und erwartete von ihm Drillinge. »Ist es dir vollkommen egal, wie deine Kinder aufwachsen werden?«
»Selbstverständlich nicht«, seufzte sie, »aber ich habe mich längst für die drei Rohrsänger-Paare entschieden, die in dem Ginsterbusch am Waldrand nisten. Sie machen mir einen sauberen und ordentlichen Eindruck.«
»Am Waldrand?« Ich schüttelte zweifelnd den Kopf. »Was da alles passieren kann! Überleg doch mal, wenn der Wald abgeholzt werden sollte, dann sind diese Nester als Erstes dran. Und mit ihnen deine Kinder.«
»Gefahren lauern überall«, gab sie achselzuckend zurück. Über so viel Gleichgültigkeit sträubte sich mir das Federkleid. »Hast du dich jetzt endlich entschieden?«, fragte Kimmy ungeduldig. »Mir reicht es nämlich langsam. Es ist bald Zeit für die Eiablage, und ich hätte mich eigentlich schonen sollen. Auf dem Baum sitzen, mir die Sonne aufs Gefieder scheinen lassen, solche Sachen. Stattdessen fliege ich mit dir wie eine Irre durch den Wald, um Ziehmütter zu begutachten, die dir dann doch nicht gut genug sind. Weißt du, was ich glaube? Es liegt daran, dass dein Junior ein Einzelkind ist. Das hört man ja öfter, dass um die immer so ein Gewese von ihren Müttern gemacht wird. Glaub mir, wenn du wie ich Drillinge bekämst, dann würdest du dich nicht so
Weitere Kostenlose Bücher