Kerstin Gier 2
anstellen.« Empört wollte ich gerade damit beginnen, ihr so richtig die Meinung zu sagen, als sie einen lang gezogenen Schrei ausstieß. »Aaaaaaaaaaaaaah.«
»Was ist?«
»Was denkst du wohl? Es geht los. Jetzt muss ich mich aber beeilen, damit ich es noch bis zum Waldrand schaffe.«
»Viel Glück«, rief ich ihr hinterher und beobachtete besorgt, wie sie taumelnd davonflog. Ich hoffte, dass alles gut gehen würde und dachte gleichzeitig, dass meine Zeit nun auch bald kommen würde. Deswegen entschied ich mich schweren Herzens für Rita, eine Rotkehlchendame, mit der ich schon kurz nach meiner Ankunft im Wald Freundschaft geschlossen hatte. Von allen Vögeln, die ich kennengelernt hatte, kannte sie sich am besten in Ernährungs- und Nestbaufragen aus. Zudem freute sie sich sehr auf ihren Nachwuchs und hatte einen fleißigen, liebevollen Mann, der stets die köstlichsten Heuschrecken, Regenwürmer und Schnecken nach Hause trug und sich auf dem Weg dorthin auch von den schönsten und jüngsten Rotkehlchenweibchen nicht ablenken ließ. Ich beobachtete das Pärchen eine Weile und entschied schließlich, die und keine anderen sollten es sein. Bei ihnen würde Junior es gut haben. Doch trotz dieser Überzeugung war der Tag, an dem ich mich von ihm trennen musste, ein schwarzer. Als ich spürte, dass meine Zeit gekommen war, legte ich mich vor dem Rotkehlchennest auf die Lauer, in dem Rita voller Stolz auf ihren vier frisch gelegten Eiern brütete. Junior drängte jetzt nachdrücklich nach draußen, sodass ich schließlich in ziemlich uneleganten Schlangenlinien die Fichte ansteuerte, in der sich sein zukünftiges Zuhause befand.
»Karla, guten Tag«, zwitscherte Rita geradezu ekelhaft gut gelaunt, und ich brummte so etwas wie einen Gruß zurück. Zum einen reizte mich ihr zur Schau getragenes Mutterglück bis aufs Blut, zum anderen stand die Geburt unmittelbar bevor. »Geht es dir nicht gut?«, fragte sie und sah mich besorgt an.
»Alles bestens. Herzlichen Glückwunsch«, rang ich mir eine Gratulation ab, und ihre Kehle wurde vor Freude noch eine Spur röter.
»Vielen Dank. Wir sind ja so stolz auf unsere vier Kleinen.« Damit erhob sie sich von ihrem Gelege und ließ mich einen Blick auf ihre unscheinbaren, farblosen Eier werfen. »Sind sie nicht wunderschön?«
»Ganz reizend«, nickte ich und atmete dabei tief in den Bauch. Es wurde wirklich allerhöchste Zeit, Rita irgendwie dazu zu bringen, wenigstens für kurze Zeit ihr Nest zu verlassen.
»Rolf ist so ein begeisterter Vater«, plapperte sie weiter, und es versetzte mir einen Stich, »er hat jeder Rotkehlchenfamilie im Wald einen Regenwurm spendiert. Damit ist er schon den ganzen Tag beschäftigt. Dabei knurrt mir der Magen auch schon eine ganze Weile. Das Brüten ist ziemlich anstrengend. Aber nun ja, er freut sich eben so sehr.« Sie ließ ein nachsichtiges Lachen hören, während ich mich schon sehr wunderte. Ob es an ihrem veränderten Hormonhaushalt lag, dass sie so friedfertig war? Ich für meinen Teil hätte diesem Rolf ganz schön was erzählt, mich hungrig und brütend im Nest sitzen zu lassen. Ein scharfer Schmerz durchfuhr meinen ganzen Körper, und ich keuchte unterdrückt auf. »Ist wirklich alles okay mit dir?«
»Ja doch. Rita, warum fliegst du nicht schnell los und besorgst dir einen kleinen Imbiss?«, schlug ich betont beiläufig vor.
»Ach nein, es geht schon.«
»Du solltest dringend etwas essen. Wenn du vor Schwäche zusammenklappst, dann nützt du deinen Kindern schließlich auch nichts.« Erschrocken sah sie mich an. Ich weiß, das war gemein von mir, aber langsam wurde die Zeit knapp. »Mach dir keine Sorgen, ich spiele den Babysitter, bis du zurück bist.«
»Das würdest du tun?«
»Selbstverständlich.«
»Weißt du«, sagte sie, während sie sich vom Nest abstieß und in die Lüfte erhob, »ich finde, ihr Kuckucksvögel habt im Wald ganz zu Unrecht einen so schlechten Ruf. Bin gleich wieder da.«
»Lass dir Zeit«, rief ich ihr hinterher und wartete ungeduldig, bis sie außer Sicht war. Das war keine Sekunde zu früh, denn schon Augenblicke später lag ein fünftes Ei im Nest.
Ein bis dahin ungekanntes Gefühl von Liebe und Wärme erfüllte mich. Da war er also drin. Mein Sohn. Mein Junior. Nur eine Kalkschicht von weniger als einem Millimeter trennte mich von ihm. Ich platzierte ihn zwischen seinen Ziehgeschwistern und registrierte voller Mutterstolz, dass seine Schale viel schöner, glatter und glänzender war als
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