Kerstin Gier 2
anzuschauen. Sie folgt meinem Blick und stößt einen tiefen Seufzer aus.
»Das darf doch wohl nicht wahr sein. Wie lange sitzt du hier schon?«
»Seit vier Tagen.«
»Und was soll das?«
»Ich möchte einfach in seiner Nähe sein. Verstehst du das denn nicht?« Damit wende ich mich meiner Freundin zu, die mich mit besorgtem Blick mustert.
»Doch, ich verstehe dich«, gibt sie schließlich zu und rückt ein wenig näher heran. Die Wärme ihres Körpers ist irgendwie tröstlich. »Aber so ist nun mal der Lauf der Dinge. Du solltest versuchen, die Situation positiv zu sehen.«
»Positiv?«, echoe ich ungläubig. Sie nickt.
»Glaub nicht, dass ich nicht auch manche Stunde damit verbringe, an die drei Kleinen zu denken und sie zu vermissen. Aber das bringt doch nichts. Also beruhige ich mich damit, dass sie gut versorgt sind und genieße ansonsten mein Leben. Sieh sie dir doch an«, damit deutet sie mit dem Flügel in Richtung der brütenden Rita, »schon jetzt wird sie von der Familie total vereinnahmt, und dabei sind die Jungen noch nicht einmal geschlüpft. Sie ist nicht frei zu fliegen, wohin sie will, die Nachmittage faul in einer Baumkrone zu sitzen, Freundinnen zu treffen. Nein, sie ist ans Nest gefesselt und in ein paar Tagen hat sie ewig schreiende, unzufriedene, hungrige Gören, deren Mäuler sie stopfen muss und die ihr den Schlaf rauben. Ist es wirklich das, was du willst?«
»Auf jeden Fall würde ich es in Kauf nehmen, wenn ich dafür Junior bei mir haben könnte.«
»Das kannst du aber nicht. Nun komm schon, lass uns zusammen einen Ausflug machen. Hier im Schatten ist es kühl, aber über den Baumwipfeln ist es wunderbar warm und sonnig. Der Sommer hält Einzug.« Übertrieben enthusiastisch flattert sie mit den Flügeln. »Lass uns das Leben genießen.« Doch ich schüttele nur müde den Kopf.
»Wenigstens seine Geburt will ich noch abwarten. Sehen, ob er gesund ist.« Auch wenn ich das dumpfe Gefühl habe, dass mir die Trennung noch viel schwerer fallen wird, wenn ich meinen Sohn erst einmal zu Gesicht bekommen habe.
Zwei Tage später, der Morgen graut bereits, habe ich das untrügliche Gefühl, dass es heute so weit ist. Obwohl ich mich vor lauter Entkräftung kaum noch auf den Beinen halten kann, verlasse ich meinen Posten nicht. Das tagelange Hungern hat wohl schon meinen Sehsinn beeinträchtigt, denn plötzlich bilde ich mir ein, Karl hoch oben über meiner Tanne schweben zu sehen. Und er steuert direkt auf mich zu. Ich blinzele, einmal, zweimal, aber die Halluzination verschwindet nicht. Im Gegenteil, sie kommt näher und näher und setzt sich schließlich zu mir auf den Ast. Ein fetter, appetitlich glänzender Regenwurm hängt ihm aus dem Schnabel und lässt mir das Wasser in selbigem zusammenlaufen. Er legt den Leckerbissen vor mir ab, und ich betrachte ihn begehrlich. Doch statt mich daraufzustürzen, wende ich mich ab und sage betont desinteressiert: »Nanu, du bist ja gar nicht bei deiner neuen Flamme. Wie hieß sie doch gleich? Klothilde?«
»Korinna.«
»Wie auch immer.«
»Sie ist doch noch ein Baby.«
»Was du nicht sagst …«
»Komm schon, Karla, nun iss endlich.« Aufmunternd schiebt er den Wurm in meine Richtung. »Verstehst du denn nicht? Das ist meine Art, dich um Verzeihung zu bitten.«
»Na schön, dir ist verziehen«, sage ich gedehnt und stürze mich auf die erste Mahlzeit seit Tagen. Das tut gut.
»Karla, Karla, was soll ich nur mit dir machen?«, fragt Karl, und in seiner Stimme schwingt Sorge und Verzweiflung mit. »Warum kannst du nicht wie die anderen Kuckucksdamen sein? Woher kommt bloß dieser ausgeprägte Mutterinstinkt?« Ich schweige, denn ich bin froh, dass Karl in meiner Nähe ist, und möchte ihn ungern durch Vorträge über meine schwere Kindheit gleich wieder vergraulen. Er wirft einen Blick auf das Rotkehlchennest und seine Augen leuchten auf. »Ist er das?«
»Ist er nicht wunderschön?«
»Das schönste Ei im ganzen Wald«, nickt er, und eine Weile sitzen wir stumm nebeneinander und betrachten unseren Nachwuchs voll Staunen, als Rita plötzlich zusammenzuckt, ihren Platz auf den Eiern aufgibt und an den Rand des Nestes rückt. Aufgeregt beginnt sie, mit den Flügeln zu schlagen, und ich mache es ihr nach. Im Inneren des schönsten Eies des Waldes beginnt es zu klopfen und rumoren.
»Es schlüpft, seht doch, mein erstes Kind, es schlüpft«, ruft Rita aufgeregt.
»Von wegen dein Kind«, murmele ich voll unterdrückter Wut, während Karl
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